Friday, 28 October 2011
Gepanzerter Blick und technologischer Eros bei Heiner Müller
Posted on 01:54 by Unknown
Was meinem Auge diese Kraft gegeben,
Dass alle Misgestalt ihm ist zerronnen,
Dass ihm die Nächte werden heitere Sonnen,
Unordnung Ordnung, und Verwesung Leben?
Was durch der Zeit, des Raums verworr'nes Weben
Mich sicher leitet hin zum ew'gen Bronnen
Des Schönen, Wahren, Guten und den Wonnen,
Und drin vernichtend eintaucht all' mein Streben?
Das ist's. Seit in Urania's Aug', die tiefe
Sich selber klare, blaue, stille, reine
Lichtflamm', ich selber still hineingesehen;
Seitdem ruht dieses Aug' mir in der Tiefe
Und ist in meinem Seyn, - das ewig Eine,
Lebt mir im Leben, sieht in meinem Sehen. (1)
Wenn wir den Flug einer Taube sehen, so ist das weitaus mehr als bloßes Sehen. Wir zeichnen deren Bahn im Raum nach, wir richten einen dreidimensionalen Raum ein, damit er diese Zeichnung aufnehmen kann, wir ahnen den Flügelschlag, den Luftwiderstand, und beinahe sehen wir nun, als hätten wir Röntgenaugen, das Skelett der Taube. Oder wäre diese Tiefenstruktur nicht etwas Oberflächlicheres als die Taube selbst, das die Taube verbirgt: vielleicht jenes anatomische Bild, das wir im Biologieunterricht des Gymnasiums gesehen haben und das uns jetzt wie ein Schema vorschwebt? Oder wären es nicht noch andere Tauben, die wir früher am Himmel, auf der Leinwand des Künstlers oder des Kinos oder auch einfach in unserer Phantasie auf der Netzhaut gesehen haben, die vom Köder eines literarischen Textes angelockt werden? Könnten diese anderen phantomhaften und schematischen Vögel, die aus anderen Texten kommen, nicht als Schlüssel der Lektüre dienen, als Codes, damit wir einen anderen Text lesen, der zunächst nur die Wahrnehmung des Flugs einer Taube schien?
Rubens Rodrigo Tones Filho (2)
Uranias Auge
Der von Fichte definierte intensive Blick Uranias steht am Beginn einer neuen Reflexivitätskonstellation, die den deutschen Idealismus und sein philosophisches Theater begründet haben. Das Auftauchen der transzendentalen Sichtweise führte in jede Darstellung die funktionale Verdoppelung des Alphabets der Wirklichkeit ein, in der sich fortan die Virtualität und die Gegenwart der Figuren überschneiden und dramatisch entwickeln. Wenn das Virtuelle die Möglichkeit einer Erfahrung ist, die sich über die Grenzen des sinnlich Wahrnehmbaren als a priori hinaus erstreckt, so negiert es durch seine eigene zeitliche Genese den Körper der Worte selbst, in dem der Welttext buchstabiert wird, und weist wie eine Abschiedsgeste auf jenen Bereich hin, der bereits in der Vergangenheit vom Phantom der Metaphysik kolonisiert wurde und dessen Tore sich nun für immer in der Immanenz einer Phantasie schließen, die sich unablässig weiter entfalten wird.
Das, was sieht und gesehen wird und dabei uneingeschränkt in der Demiurgie des Ichs ohne räumliche Koordinaten erglänzt, offenbart zwei Vektoren: Das Denken entsteht aus der Zentrifugalkraft seiner spontanen Tätigkeit, und auf dem Kamm seiner Flutwelle trifft es mit einer zentripetalen Stoßkraft als Reflexion (>Entgegensetzung<) zusammen; das Denken kehrt immer wieder zu sich selbst zurück und erzeugt sich in der Reziprozität bei der Vektoren im leeren Raum der freien Phantasie als ein genetischer Blick, in dessen Gesichtskreis sich jede Darstellung dort, am Entstehumigsort der Bedeutungen, im Umfeld der Sprachlosigkeit des Dings an sich - einer Schattenzone und des negativen Horizonts jeder Bedeutung -, äußert und auf diese Weise die Umrisse der Erfahrung entwirft, indem es das sinnlich Wahrnehmbare auslöscht und verhindert, daß sich dieselben trügerischen Bedeutungen in den Bereich des Übersinnlichen projizieren.
Wenn die Kantischen Verstandeskategorien >leer< sind, sobald sie sich von den Gegenständen der Erfahrung entfernen, und nur einen Sinn als Alphabet und Virtualität zum Buchstabieren des Wirklichen haben, so besteht ihre Möglichkeit gerade darin, den Sinn des Welttextes all Sichtbarkeitsschwelle jeder Erfahrung >zu bezeichnen<. Indem Fichte aus dem Gebrauch dieser von Kant eröffneten Perspektive sogar noch die letzten Folgen ableitet, potenziert, flexibilisiert und überwindet er durch die Metastase dieses Blicks die Begriffe des ganzen Dualismus, in den sich diese Metaphysik verstrickt hatte -und an dem sie immer noch hartnäckig festhält im Zwischenraum zwischen dem, was gesehen wird, und dem, was sieht, in einer unaufhörlichen Bewegung, denn das, was sieht, ist ja nicht das Licht dieser reinen Bedeutung, wohl aber der Geist, der den Buchstaben erhellt. Dieser perspektivische Blick, die Voraussetzung und Schwelle aller Diskursivität, polarisiert jedes Material mit der Reflexivität, die dessen Kehrseite erhellt, denn er ist tatsächlich der Keim seines Epos, weil er die semantische Schwerkraft eines Codes herausfordert, der noch an die residuale Referentialität der illusorischen Objekte der dogmatischen Wissenschaft gebunden ist, und das gerade, weil er diesen neuen Horizont noch nicht benennen kann, was durch die umfassende Überarbeitung von der Wissenschaftslehre bewiesen wird. Als versengte dieses reine Licht solche Gegenstände - Gott, Seele und Welt -, bleibt uns nur die Asche dieser Figuren übrig, von denen wir nicht ablassen. Der Blick, der aus dem dogmatischen Schlaf erwacht, bildet sich nicht in der Linearität des Diskurses heraus, er ist nicht vor ihm oder außerhalb von ihm, sondern leuchtet aus den diskreten Einheiten dieses neuen Alphabets hervor, in der Konvergenz und Überwindung von Form und Inhalt.
Notwendig wäre jedoch, auch einen nicht weniger beunruhigenden, fast verrückten, >anderen Blick< anzuerkennen, der sich aus der reflektierenden Spirale des Auges Uranias entwickelt, der »Moment der Wahrheit, wenn das Bild des Feindes im Spiegel auftaucht«. Das, was »in meinem Leben lebt und in meinem Blick blickt« führt in diese Dynamik ein Prinzip der Nichtidentidentität ein, das es in seiner reinen Tathandlung überwacht und beaufsichtigt und dem >Blut der Bilder< sein corpus absconditum entnehmen will. Unter der Oberfläche der elektronischen Totalität unseres- Weltsystems offenbart dieser unmittelbare Blick schließlich seine taktische Unsichtbarkeit: Sowohl der deutsche Idealismus wie auch der reine Krieg als die totale Beschleunigung der Vektoren nähren sich von derselben Hybris, wenn sie durch ein gegenstandsloses Denken die Grundlage der Wirklichkeit selbst angreifen und vernichten.
Durch die Virtualisierung des modernen Kriegsschauplatzes gewinnt diese Qualität einen neuen Sinn: Im Monitor-Blick der Generalstabsbunker geht das Gemetzel weiter, bis es zeitlicher- Trägheit verfällt.
Der phänomenologische Blick
Die Literaturwissenschaftlerin Genia Schulz hat als erste hervorgehoben, daß in Heiner Müllers lyrischer Sensibilität, in der >postdramatischen Landschaft der synthetischen Fragmente< der siebziger Jahre, immer wieder ein zersetzender Blick< (3) thematisiert wird. Die formale Intensität und der Reduktionsdrang scheinen eine zentripetale Bewegung in der Schrift anzugeben, die die szenische Referentialität und ihre zentrale visuelle Perspektive eines kartesianischen Zeichens auflöst. Besonders im Triptychon der «deutschen Geschichte - worin eine genealogische Schlüsselsynthese des Modells einer Triebgeschichte gesucht wird, die über jenen von der Aufklärung kolonisierten Bereich hinausgeht, in der sich die Vorstellung vom autonomen Subjekt herausbildet - entwickelt sich die analytische Kraft dieses unkörperlichen Blicks hypertroph, bis sie den Zenit der Mittagskonstellation, den Nullpunkt der geschichtlichen Entwicklung, einbezieht. Noch symptomatischer ist, daß Müller nunmehr die >Material<-Kategorie als Kettenglied der Reflexion und Fluchtpunkt der grundsätzlichen Nichtidentität zwischen Subjekt und Objekt im inneren Raum der Form und aus dem Blickfeld der Tradition, insbesondere in seinem Verhältnis zu Brecht, zunehmend betont: Die Produktivität des Materials offenbart sich gerade im per-spektivischen Blick, der, indem er die ontologisierende Trägheit dieser traditio und die >Einschüchterung durch die Klassiker< überwindet, im konstruktiven Moment jedes Werks der Vergangenheit jenen Entwurf wiederbelebt, der ihm vorangeht, jedoch mit dessen Vollendung nicht verschwindet, wie eine Geste, die sich auf das Kommende projiziert. Diese Reflexivitätskonstellation der Gedankenspiele als >Material< bei Müller entwickelt sich nunmehr parallel zu einer zunehmenden Virtualisierung und Entmaterialisierung der Bühne im Verlauf einer kohärenten Bewegung, die von Die Schlacht bis Bildbeschreibung reicht, mit der folgerichtig ein formaler Zyklus abschließt. In diesem Moment gewinnt die szenische Maschinerie Müllers ihren emblematischen Wert als Plattform und Konvergenzpunkt der wichtigsten Bühnentraditionen des Jahrhunderts, wenn er erklärt, das Theater als Vision der negativen Totalität der Welt in ihrem dialektischen Winterschlaf sei unmöglich - ein latenter Blick auf ein >Theater der Zukunft< und eine rein virtuelle Szene in der Form des weißglühenden Monologs Lessings in Gundling, der sich in effigie angesichts der nutzlosen Schönheit seiner Lyrik unter den Ruinen des Theatergebaudes verzehrt.
Aus der Möglichkeit, als Grundlage der Politik unmittelbar >der Geschichte ins Weiße im Auge< zu sehen, würde also eine neue Sichtbarkeitsschwelle am Zenit des Firmaments auftauchen; trotzdem weist sie als extremer Punkt dieser Bewegung zwangsläufig auf den Untergang jedes utopischen Rückstands der Bilder am Boden der Erfahrung hin. Immer wieder angeführt wird die besonders paradigmatische Analyse die Genia Schulz dem Gedicht Bilder gewidmet hat, das mit einem phänomenologischen Schlüssel über das theologische Verbot von Versöhnungsbildern hinaus interpretiert wird.(4)
Bilder bedeuten alles im Anfang. Sind haltbar. Geräumig.
Aber die Träume gerinnen, werden Gestalt und
Enttäuschung.
Schon den Himmel hält kein Bild mehr. Die Wolke, vom
Flugzeug
Aus: ein Dampf der die Sacht nimmt. Der Kranich nur
noch ein Vogel.
Der Kommunismus sogar, das Endbild, das immer
erfrischte
Weil mit Blut gewaschen wieder und wieder, der Alltag
Zahlt ihn aus mit kleiner Münze, unglänzend, von
Schweiß blind
Trümmer die großen Gedichte, wie Leiber, lange geliebt
und
Nicht mehr gebraucht jetzt, am Weg der vielbrauchenden
endlichen Gattung
Zwischen den Zeilen Gejammer
auf Knochen der Steinträger glücklich
Denn das Schöne bedeutet das mögliche Ende der
Schrecken.(5)
In seinem begrenzten Kreis gestaltet das Gedicht einen immanenten Säkularisierungsprozeß: Die utopische >Substanz< der Bilder, eine perspektivische Illusion, wird von der Praxis in der Undurchsichtigkeit des Existenten vereinnahmt und abgelagert. Das Verbot des Versöhnungsbildes reinigt den künstlerischen Stoff und läßt ihn auf den Boden der Erfahrung hinabsteigen, in der die Kunst als ein zu rechtfertigendes Privileg geboren wird. Die Bilder befruchten die Wirklichkeit, produzieren und verfälschen sie. Wenn sich das Rohmaterial der naiven Lyrik von dieser Unmittelbarkeit nährt, so ist die Herstellung der Identität das Erlernen jenes Blicks, der, wie in Die sinnliche Gewißheit, sich nicht um das Trugbild eines ursprünglichen äußeren >Inhalts< kümmert. Diese Säkularisierung der Bilder entspricht auch einer schrittweisen Historisierung ihrer Inhalte. Wenn die Bilder derselben Tradition zufolge konventionell zunächst eine >reine< und >unmittelbare< Wirklichkeit (>alles<) bedeuten, so werden sie nach und nach greifbar und Bedeutungsträger (>geräumig<), indem sie ihre Autonomie während eines langen Zeitraums entwickeln. Die Wirklichkeit zu >lesen< würde daher bedeuten, sie in ihren Phänomenen mit Hilfe von Kategorien zu >buchstabieren<, die bereits als eine unter unseren Händen entstehende und vergehende Struktur vorhanden sind. Sie ist schon von jeher eine Wirklichkeit, und das durch alle Texte, die sie aktualisiert. Doch das Gedicht weist auch auf die bezeichnende Geste hin, die der Denotation dieser bereits sozialisierten Inhalte vorausgeht: Die Demonstrativpronomen >dies< oder >jenes< geben einen Vektor an, der uns auf das Objekt, die bereits gestaltete Struktur des Wirklichen, hinweist, dessen Ort tatsächlich eine Abwesenheit als willkürlicher Bedeutungszusammenhang oder als die Illusion einer substantiellen Bedeutung in der sinnlichen Erfahrung ist, an deren Oberfläche wir dahingleiten. Das >dies< unserer Bezeichnungen, das als Virtualität in Müllers Gedicht gegenwärtig ist, kann nicht unmittelbar sein, sondern ist mittelbar wie Nebel, der sich in den Wolken- und Rauchmetaphern über den naiven Blick legt.
Die Panzerung des Ichs und der technologische Eros
Wenn Bilder noch eine überzeugende Verheißung der Säkularisierung enthielt, so verliert der Blick bei Müller allmählich diese Unschuld in einer zunehmenden Synergie mit der Maschinenwelt als seiner Andersheit in der Projektion eines über den Schmerz und die Narben der Prosa der Geschichte hinausweisenden Sternenkörpers. Die Hochtechnologie ist nicht nur ein >Thema< der Poetik Heiner Müllers, sondern auch ihre Form und ihr Horizont. Die Denaturierung des Körpers und seiner Erweiterungen darf nicht außerhalb der Sinne bleiben, vielmehr muß sie als Nervengeflecht der neuen Medien und in der Art gedacht und verstanden werden, wie sich diese neuen Technologien in einem kollektiven Körper organisieren und aus ihm ihren imaginären Träger machen. Dies ist der >Leib< (die von der Seele bewohnte Körperlichkeit) des Müllerschen Theaters. In seinem Nachruf im Berliner Ensemble am 16. Januar 1996 bezog sich Alexander Kluge (6) auf die Vorliebe für das Lyrische in Müllers Werk, um die Chiffre des Jahrhunderts zu erfassen: der >Charakterpanzer< der Männer, die aus den Schützengräben von Verdun kommen. In ihm wurde am Beginn -unseres Jahrhunderts das erste Urteil der Erzählung Kafkas durch die Verwandlung/Panzerung der Sensibilität in einem doppelten Sinne buchstabiert: Aus der Materialschlacht, in der Differenz zwischen Feuerdichte und Manöver, entstehe eine neue >Naivität des Erzählens«, die ohne Zentrum und rein äußerlich sei, wie die Donquichotterie der Brutalität deren Zeugnis uns Jünger biete; diese Panzerung führe jedoch als Prothese und Rüstung der Sinne zwangsläufig nach Auschwitz.
Heiner Müllers Theater des totalen Krieges wäre daher das vorgeschobene Territorium dieser neuen ästhetischen Wahrnehmungskonstellation, ein noch namenloser Raum, dessen Körper von den Stoßtruppen der Materialschlacht überrollt wird. Diese Andersheit äußert sich in der besonderen Form eines technologischen Eros durch die sich vervielfachenden Blicke und in der ständigen Kennzeichnung der technologischen Struktur der Bilder und Artefakte einer Bühnenökonomie, die sich nicht im Maßstab des individuellen Körpers der Schauspieler wiedergeben lassen. Walter Benjamin hatte bereits festgestellt, daß der Photoapparat durch sein Objektiv die Bilder des lebenden Körpers erfasse, doch er gibt den menschlichen Blick nicht in seiner Undurchsichtigkeit zurück (7). Von diesem nie zurückgegebenen Blick, auf den ein anderer gepanzerter Blick hinweist, spricht Müllers Theater oft.
Die Kolonisierung der Naturwelt durch die Industrie während der letzten zweihundert Jahre floß in Form von romantischen Phantomen, als Sehnsucht nach einem Raum am Rand der Zivilisation, in die Vorstellungswelt zurück. Je mehr sich dieser Kreis schloß, um so mehr offenbart sich heute diese rückblickende und vielsagende Orientierung zusammen mit der technologischen Welt als Hemmnis für eine Zukunft, die nur in einer Gemeinschaft von Mensch und Maschine, Organischem und Anorganischem denkbar ist. Doch Müller verherrlicht nicht die klassische Maschinenwelt als metaphori-schen und utopischen Energieträger des sozialen Körpers - die schon die künstlerische Phantasie der linken und rechten historischen Avantgarden entflarnmt hatte, entweder in der Erwartung einer Konvergenz zwischen sozialer Revolution und technischem Horizont oder als Dystopie in der Materialschlacht, in der diese Energien wie metaphysisch geartete >Elementarkräfte< erscheinen, als die Maschinen des Dampf- und Elektrizitätszeitalters noch über ein mimetisches, beinahe totemistisches Potential verfügten, um diesen Strömen eine Form zu geben. Vielmehr dramatisiert er ein anderes Bezugsstadium des Theaters, bei dem die neuen Reproduktionstechnologien, die sich nun mit der Hegemonie der symbolischen Sphäre verbinden, unsichere Konturen angenommen haben und nicht mehr das gesamte System darstellen können. Aus der Auflösung und Erweiterung des >Natur<-Begriffs selbst ergibt sich bei Mlüller eine neue Produktivität als Gegenmittel zu jeder engstirnigen Bewunderung des Ökologischen. Denn der menschliche Stoffwechsel wirkt ja zwangsläufig räuberisch und negativ, weil er mit dem geometrisierenden und konvergenten Blick der Menschheit zu-sammenhängt, durch den sich der Raum in mehreren virtuellen Dimensionen vervielfältig. Wenige Texte des zeitgenössischen Repertoires sind bei der Erkundung dieses neuen, umfassenderen Naturbereichs so weit vorgedrungen wie die acht Seiten von BildBeschreibung.
Bildbeschreibung führt die Inszenierung der Perspektive bis zur Grenze ihres Bezugssystems, indem es die raumzeitliche Kontinuität segmentiert und auf die dialektischen Kategorien wieder das ihm zugrunde liegende Identitätsprinzip selbst anwendet; das Subjekt hat einen dauerhaften Bezug zu seinen sich aleatorisch verwandelnden Objekten verloren und unterliegt ihrem schnellen Ortswechsel. Auf diese Weise will der Text einen >negativen Horizont< als Kehrseite einer imaginären >Landschaft< entwerfen, wo der Blick des Beobachters ständig überwacht wird und niemals mit dem Brennpunkt der Lektüre übereinstimmt. Bildbeschreibung wird mit einem >beschreibenden Zenit< eröffnet, von dem alle folgenden Metamorphosen ausgehen, die ihm eine hohe narrative Stufe zuweisen. Der sich herausbildende subjektive Blick muß zunächst die ihn umgebende mythische Unbeweglichkeit beseitigen. Müller will gerade den Nullpunkt dieser Herausbildung als einen Augenblick der Nichtidentität erfassen, aus dem ein neuer Blick entstehen wird, der nun wirklich einen Sinn hat. Das Pathos dieser Utopie ist nicht die Verfremdung einer gleichmütigen Betrachtung, sondern die Dramatisierung von >zwei Blicken im Krieg<, wie Hans-Thies Lehmann (8) feststellt: der absolute Blick und der Blick, der sich ihm widersetzt, um die >Kehrseite< der Phänomene kennenzulernen: ... kann geschlossen werden, daß die Sonne, oder was immer Licht auf diese Gegend wirft, im Augenblick des Bildes im Zenit steht, vielleicht steht DIE SONNE dort immer und IN EWIGKEIT: daß sie sich bewegt, ist aus dem Bild nicht zu beweisen, auch die Wolken, wenn es Wolken sind, schwimmen vielleicht auf der Stelle, das Drahtskelett ihre Befestigung an einem fleckig blauen Brett mit der willkürlichen Bezeichnung HIMMEL...(9)
Der erste, undifferenzierte Blick in Form des weißen Lichts in der Ewigkeit ist derjenige, der den Horizont blockiert (>die Farben töten<): Der sich wiederholende Blick ist auch Reflex der Gewaltbilder bei Shakespeare als >ewige Wiederkehr<. Der mythische Blick betrachtet das Bild dieser Landschaft aus dem Zenith >jenseits des Todes<. In seiner Starre sterilisiert er jede befruchtende sinnvolle Form des Werdens, dem sich kein anderer widersetzen kann. Diese Landschaft wird erst >lesbar<, wenn aus unserer sinnlichen Erfahrung ein anderer Blick eindringt: Im Zwischen räum zwischen beiden, zwischen dem, der sieht, und jenem, das weiß, daß man es in einer unaufhörlichen Bewegung sieht, beginnt eine Folge bedeutsamer Metastasen. Dieser Prozeß entwickele sich in einer >unsichtbaren Unsichtbarkeit<, schreibt Lehmann weiter. Wie Uranias Blick vervielfältige sich das Fremde, das aus der Spiegelung dieses Logos entstehe, in anderen Figuren. Dieser andere Blick, der gegen die Unbeweglichkeit des beschreibenden Zenits kämpfe, solle die ewige und geschlossene Gegenwart des Bildes befreien, das voll von sich selbst als reiner Unmittelbarkeit sei, bis eine >neue Lektüre< eingreife, die deren Rahmen irmplodieren lasse und die Zeitlichkeit in den aufeinander folgenden Metamorphosen befreie. Müllers Poetik offenbare sich daher als eine Hermeneutik des Bildes: »Mich interessierten die Unstimmigkeiten in dem alten Text«, kommentiert er seine Bearbeitung des Prometheus. »Denn süß ist wohnen wo der Gedanke wohnt,/entfernt von allem«, heißt bei Müller der Vers aus Hölderlins Ödipus-Übersetzung - statt: »entfernt von Übeln«. Infolge der zunehmenden Kolonisierung der Phantasie durch die Medien wird die Verblendung intensiviert, die zur Blindheit durch die Intransitivität der Wirklichkeit als einer ständigen Kapitalbewegung führt:
SCHWARZFILM
Das Sichtbare
Kann fotografiert werden
O PARADIES
DER BLINDHEIT
Was noch gehört wird
ist Konserve
VERSTOPPE DEINE OHREN SOHN
Die Gefühle
Sind von gestern Gedacht wird
Nichts Neues Die Welt
Entzieht sich der Beschreibung
Alles Menschliche
Wird fremd (10)
Das Ergebnis dieses Verlöschens des sinnlich wahrnehmbaren Horizonts ist die absolute Ausklammerung des lyrischen Ichs. Die Geste dieses Gedichts, das Müller an seinem Lebensende geschrieben hat, scheint auf den Epilog der schwarzen Prosa von der Dialektik der Aufklärung hinzuweisen: »Wenn die Rede heute an einen sich wenden kann, so sind es weder die sogenannten Massen, noch der Einzelne, der ohnmächtig ist, sondern eher ein eingebildeter Zeuge, dem wir es hinterlassen, damit es doch nicht ganz mit uns untergeht.« (11)
In der modernen Reklamemaschinerie erhält die numerische Fiktion selbst die Aussagekraft der Objektivität. Nur das Kapital ist Subjekt der Landschaft. Das lyrische Ich, das sich der Selbstbeschreibung entzieht und sich als Mythologie aufhebt, bestimmt die Fiktion des Dialogs. Wenn es Zeugen gibt, können diese lediglich imaginär sein, ein statistischer Wahn. Die Selbstbezüglichkeit dieses Räderwerks ist nichts anderes als der Autismus des Kapitals, das über das Menschliche spottet.
Der unverhüllte Rest
BRECHT
Wirklich, er lebte in finsteren Zeiten.
Die Zeiten sind heller geworden.
Die Zeiten sind finstrer geworden.
Wenn die Helle sagt, ich bin die Finsternis
Hat sie die Wahrheit gesagt.
Wenn die Finsternis sagt, ich hin
Die Helle, lügt sie nicht. (12)
Wenn bei Brecht die direkte Beziehung zum Theater der Aufklärung offenbar die Extreme eines literarischen Projekts einschließt, das seine Spannung aus der Konfrontation zwischen der Helligkeit und den sich aus der inneren Bewegung des Materials selbst ergebenden Schattenzonen erhält, so will Heiner Müllers Blick eine neue Größenordnung aus dieser Dynamik ableiten. Das einleitende Umstandsvwort (>wirklich<) scheint eine emphatische, beinahe didaktische Geste vorauszusetzen; tatsächlich müßte man die Undurchsichtigkeit des >weißglühenden Kapitals< des Tausendjährigen Reichs als die Vollendung des kolonialen Entwicklungswegs der europäischen Aufklärung anerkennen, die die >Große Wahrheit< der Produktionsverhältnisse verwirklicht, eine Uhr, die der Faschismus hartnäckig vorstellen möchte und über die Brecht in der Emigration eine Synthese erarbeiten wollte, die ironischerweise den Schrecken rationalisierte und ihn aus dem Bereich der künstlerischen Wahrscheinlichkeit seines Materials selbst ausschloß, indem er sich für die Parabelform entschied. Als Brecht das Theater problematisierte, brachte er sich in die paradoxe Lage, die Theorie darzustellen und sie zu einer fiktionalen Dimension zu erheben. Doch der >Spiegel< Brechts ist nicht derselbe wie jener der Parteigänger der Widerspiegelung, und er kopiert nicht die Wirklichkeit, sondern gestaltet sie nach, indem er den technischen/archäologischen Charakter der Bilder veranschaulicht und umfunktioniert. Aus dieser Sicht könnten wir schwerlich von einem Spiegel oder sogar von einer organischen und naturalistischen Kontinuität zwischen der Wirklichkeit und dem sprechen, was aus dem Material gestaltet wird, auch wenn das Bild eines Rückspiegels in dem perspektivischen Sinn, den Brecht der Tradition und der ihr immanenten Pädagogik zuschrieb, nicht unangemessen wäre, weil er die Lesbarkeit seines Projekts in eine wirksame Totalität einbezog, die in den von ihm geschaffenen Produktionsmodellen erzeugt und negiert wird.
Das Paar Helligkeit und Undurchsichtigkeit bildet jedoch nicht nur eine lineare Polarität. Im Bereich der Notwendigkeit und der mechanischen Kausalität sind sie Antipoden und definieren sich durch ihre gegenseitige Ausschließung. Der innere Expansionsdrang des Werks dehnt seine Eigenschaften auf das Subjekt aus, das sich naturalisiert. Doch die erzählende Struktur der Parabel mimetisiert und zerstört die Distanz der Aufklärung, indem sie diese Attribute in der blinden Kausalität der Bewegung naturalisiert, bis eine neue Reflexivität zu einer kopernikanischen Revolution der Bühne führt. Die souveräne Geste des ersten Verses schien eine klare Teilung der Welt in >wir< und >sie< einzuschließen, die noch in Furcht und Elend vorhanden ist, dessen Triumph wie Erfolg - eine weitere objektive Ironie - von seinem Naturalismus herrührt, in diejenigen, die im Besitz der historischen Gewißheit sind, an der virtuellen Linie, die seinen szenischen Aufbau durchdringt, und die sich noch in den rationalen und irrationalen Kräften im Geschichtsprozeß erkennen lassen.
Wenn diese beiden natürlichen Größenordnungen jedoch personalisiert sind, lassen sie sich nur vermittelt durch den Diskurs definieren: Die eine muß sich durch die andere bestätigen, ohne sie aufzuheben. Durch diese Prosa der Elemente wird die Zeitlichkeit historisch und konstitutiv. Der Zwischenraum zwischen beiden ist nicht leer, und das Hin- und Herschwingen zwischen diesen Versen weist gerade daraufhin, daß es unmöglich ist, das zu verfestigen, was sich unaufhörlich weiterbewegt und sich nicht mit anachronistischen Kategorien erfassen läßt, was eine Form der Universalität enthält, die sich selbst bestätigt und sich ihrer eigenen Unmittelbarkeit und Kontingenz entzieht. Das heißt, aus der Kombination dieser Elemente wird sich in neuer Anfang ergaben, der gleichzeitig beide Bereiche einschließt und der zwangsläufig als das Gebiet erscheint, auf dem es keine Möglichkeit zu einem teleologischen Urteil gibt. Das anonym wie die letzten Verse von Der Horatier ist, ein anonymer Rest, der für immer jenseits des Horizonts bleiben wird.
Müller wechselt zwischen zwei Blickfeldern, und seine Sichtweise ist auf die Brechung ausgerichtet, die an der Grenze zwischen beiden eintritt, die >Überschwemmung< der Gegenwart durch die >Flut< der ontologisierenden Kraft der traditio und durch die Bewertung der notwendigen Illusionen, die im Fall Brechts aus strategischen Gründen auf ideologischer Ebene bedingt werden, was seine eigene Wirkung beeinträchtigt. Gerade aus dieser größten Nähe zum Schwerpunkt des Brechtprojekts ergeben sich eine Differenzierung und Kontinuität, wie man sie in der modernem Kunst selten beobachtet hat.
Das Vaterland und der Körper der Worte
Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen, sieht der: Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft theilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstande so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben auf den Flügeln der Ideen in den leeren Rau m des reinen Verstandes.
Immanuel Kant, Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (13)
Im Auftrag erklärt Debuisson in seinem Schlußmonolog, »die Poesie war immer schon die Sprache der Vergeblich¬keit«, denn >die Geschichte<, von der sich Debuisson distanziert, >reitet auf toten Gäulen ins Ziel<. In einer Restaurationsperiode scheint selbst die Schönheit nach jenem fernen Kontinent zu emigrieren, wohin sie in einem Geisterschiff abfahren wird, als der vom Direktorium für Jamaika erteilte Auftrag nach dem 18. Brumaire gescheitert ist. Für den jakobinischen Arzt war die revolutionäre Geburt eine Totgeburt wie das umherirrende Licht bereits erloschener Sterne. »In der Zeit des Verrats/sind die Landschaften schön«, notierte Müller ironisch im Jahre 1958, denn bei solchen Gelegenheiten erscheinen gewöhnlich keine Engel. Erst im Moment des Umschwungs zur Farce erkennt Debuisson endlich, wie schön die Insel ist, und an dieser Schwelle zum Erhabenen, zwischen dem Historischen und dem, was der Textur seiner Prosa entgeht, taucht er unter zum Südpol. In der inneren Geometrie des Tex¬tes gehorcht diese Bewegung einer horizontalen Richtung, wobei das Werden als Differenz geschwächt wird und in einer unlesbaren Landschaft erstarrt. Der Mann im Fahrstuhl, das den thematischen Schwerpunkt im Auftrag bildet, ist in Müllers Werk beinahe eine abdriftende Insel und weist tatsächlich auf eine vertikale Ortsveränderung hin, die sich der vorhergehenden Bewegung widersetzt: Die im Monolog eingeführte Umkehrbarkeit zwischen Zeit und Raum ändert vollständig den Sinn der Entscheidung Debuissons für die >Schönheit< und sein Exil; wenn sich Debuisson horizontal entfernt, während die Natur immer mehr verstummt, fordert die zentrifugale zeitliche Beschleunigung des Fahrstuhls im ersten Teil des Monologs die Schwerkraft unmittelbar heraus und schafft eine Zone zeitlicher Trägheit. Das Untertauchen ist eine sequentielle Implosion; die beschleunigte und atemlose Syntax des Sprechens selbst verbindet sich mit dem wahnsinnigen Rasen der Arm-banduhr, bis die Tür aufgeht und sich der Textfluß dann, bei den ersten Schritten der Person durch das peruanische Dorf, verlangsamt und ein neuer Atemrhythmus einsetzt. Dies ist einer der hellsichtigsten Augenblicke in Heiner Müllers Dramatik. Am Endpunkt, der den Abstieg abschließt - uncL auch den langen Satz, als sich die Labyrinth/Tür dieses Fahrstuhls öffnet -, kann man beinahe die Freisetzung einer neuen Energie spüren, die sich bei der Person als ein tiefer Seufzer und als Mitgefühl äußert. Wie der portugiesische Literaturwissenschaftler José Bragança de Miranda (14) äußerst zutreffend feststellt, enthält der Kraftkern, von dem diese Bewegung ausgeht, eine >historische Verheißung<, die sich nicht in der Immanenz dieses Prozesses erfüllen kann und die über die Regenerationsfähigkeit der oberflächlichen Kontinuitäten hinausweist. Heiner Müllers Werk würde auf diese Weise einen >Widerstand< gegen die physikalische Schwerkraft der Bewegung bezeichnen. Von der Flamme und dem Drang diese«: zugrunde gegangenen Geschichte bleibt uns nur ihre >Asche<, ich würde sagen, das Phantom der Rationalität, das zu ihrem Projekt als eine notwendige Illusion gehört, die Debuisson tatsächlich nie verraten hat: >Friedem, Geschäfte, Markt, Welt< sind die Spuren dieser Implosion. Für den Jakobiner Debuisson eine existentielle Wahl in Gestalt des >Himmels der Schönheit< und der >"Maske des Verrats<, rot und feucht wie eine archaische Lust. Doch der Schlüssel dieses Geheintextes, der von Nummer Eins vertraulich mitgeteilt wird, seine als Abwesenheit empfundene Überdeterminierung, kurz, die Lesbarkeit des Auftrags, ist der Messingschlüssel der Parabeln Kafkas, den wir vergebens bewahren wollen, oder: Nach Müllers Worten soll es in der Trägheit dieser Bewegung das gleiche Beharrungsvermögen wie beim umherirrenden Licht der bereits erloschenen Sterne geben, das auch Großmut und Hingabe ist. Aus der Negativität des Drangs, der diese >Geschichte< nährt, das heißt aus ihrer Katastrophe, erscheint die Gegenwart als >die zunehmende Unmöglichkeit des Wirklichen, ein Abschiedsblick von Morgen<. Wenn die Kunst von den Sinnen abhängt, so hat sie mit dem zu tun, was nur ein einziges Mal wirklich ist, um dann für immer möglich und virtuell zu werden. Denn der Körper und die Materialität dieser Geschichte verschwinden spurlos und gestalten ihre Virtualität in jenem anderen verbotenen Bereich, den Uranias Blick erhellen wollte. Man muß ebenfalls jede metaphysische Betrachtungsweise Heiner Müllers ausschließen und sich fragen, was diese >Differenz< bedeutet, dieser ANDERE, der tatsächlich derselbe ist, ein notwendiges Produkt derselben logischen Matrix, desselben Verstandes, derselben Kategorien, denn auf dem Weg zum Antipoden gibt es noch dieses illusorische Relikt in Gestalt einer Lokomotive, wie aus einer Landschaft De Chiricos, deren lineare Funktionalität zur ersten Industrialisierung gehört. Ohne den Körper der Worte ist diese Fähigkeit, unsere Erfahrung zu entziffern, wie bei Hölderlin in der Geschichte verlorengegangen, sie befindet sich immer diesseits, nie jenseits von ihr, und nur in ihr ließe sie sich zurückgewinnen. Die sternenhafte Intensität von Der Auftrag, beinahe ein Gefühl des Verwaistseins, entsteht aus einem >Fading< des Lichts der grorßen Sonnenrevolution, des republikanischen Zenits der Geschichte, dem Epilog ihrer Leidenschaften, der sich als reine Negativität bis in die Gegenwart fortsetzt. Der Text dieser Geschichte, der in den Mäandern der sie nährenden Erinnerung vergessen wurde, ist die leere Mobilität des imaginären Phönix Kants auf dem Boden des Transzendentalen und seiner Bedeutungen, doch seine Machtpotenzen erfüllen sich nicht, man muß auf die Illusion dieses Flugs verzichten, ebenso wie Debuisson auf seinen >Auftrag verzichtet<. Debuisson und die Person des Monologs sind zwei unterschiedliche Momente ein und desselben Verzichts auf diesen phantomhaften Auftrag, der eine weist auf den anderen und auf die Begegnung beider voraus, die Hingabe in der Form einer schrittweisen Entkleidung ist die Geburt eines neuen Körpers: Etwas wie Heiterkeit bereitet sich in mir aus, ich nehme die Jacke über den Arm und knöpfe das Hemd auf: mein Gang ist ein Spaziergang (...) Auf einem grasüberwachsenen Bahndamm basteln zwei Knaben an einer Kreuzung aus Dampfmaschine und Lokomotive herum, die auf einem abgebrochenen Gleis steht. Ich Europäer sehe mit dem ersten Blick, daß ihre Mühe verloren ist: dieses Fahrzeug wird sich nicht bewegen, aber ich sage es den Kindern nicht, Arbeit ist Hoffnung, und gehe weiter in die Land¬chaft, die keine andere Arbeit hat als auf das Verschwinden des Menschen zu warten. Ich weiß jetzt meine Bestimmung. Ich werfte meine Kleider ab, auf das Äußere kommt es nicht mehr an. Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben. (15)
Angesichts der grasüberwachsenen Lokomotive in einer rauhen Landschaft, an einem Nullpunkt, wo sich die Wirklichkeitin das verwandelt, was sie schon ist, in die Zukunft der Vergangenheit, entsteht aus dieser unerwarteten Begegnung etwas wie Mitgefühl, während der Text innehält, durch den vergessenen Leitfaden einer Aufgabe, die sich verselbständigt, und es mag noch angemessen sein, aus ihrer vagen Erinnerung, vielleicht dem jakobinischen revolutionären Abc in der Karibik, eine Hypothese außerhalb der Linearität dieses Werdens zu formulieren, als hätten wir das Recht, sie in einem Randbereich zu formulieren. Auf welchem Weg befanden wir uns? Welche Aufgabe machte sich erforderlich, in wel-chem Archiv ging jener Leitfaden verloren? Der Spiegel des Antipoden wirft nicht unser Spiegelbild zurück, sondern nur >das Weiße in den Augen< ohne Pupillen, wie der Erzähler feststellt. Müllers Text will die hypothetische Formulierung dieser anderen virtuellen Bewegung sein, deren Bedeutung nicht im sinnlich Wahrnehmbaren gegeben wird, vielmehr stellt sie deren Verlöschen dar. In dieser größten Annäherung, die das Befremden ist, wird der Konflikt nicht gelöst, und auch der Kampf wird nicht bis zum Ende ausgetragen, sondern unterbrochen, und damit weist er voraus auf die Wiedergeburt der Hoffnung. ANMERKUNGEN 1. Fichte. Ausgewählt und vorgestellt von Günter Schulte, Diederichs Verlag, München 1996, S. 493.
2. Rubens Rodrigues Torres Filho, A virtus dormitiva de Kant. In: Ensaios de Filosofia Ilustrada. Brasiliense, São Paulo 1987, S. 25-26.
3. Genia Schulz, Der zersetzte Blick. Schzwang und Blendung bei Hemer Müller. In: Heiner Müller Material, Reclam Verlag.
Leipzig 1985, S. 165.
4. Genia Schulz, Heiner Müller, Metzler Verlag, Stuttgart 1980, S. 169-172.
5. Heiner Müller, Werke 1. Die Gedichte, Suhrkamp, Frankfurt/M. 1998, S. 14.
6. Alexander Kluge, Es ist ein Irrtum, daß die Toten tot sind. In: Kalkfell für Heiner Müller. Ein Arbeitsbuch. Theater der Zeit, Berlin 1996, S. 145.
7. Walter Benjamin, Gesammelte Werke, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M., Bd. I 1988,S. 646.
8. Hans-Thies Lehmann, Theater der Blicke. In: Dramatik der DDR. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1987, S. 191.
9. Heiner Müller, Bildbeschreibung. In: Shakespeare Factory 1, Rotbuch Verlag, Berlin 1989, S. 7.
10. Heiner Müller, Werke 1. Die Gedichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998 S. 275.
11. Max Horkheimer, Gesammelte Schriften, Bd. 5, Fischer Verlag, Frankfurt a.M. 1987, S. 288.
12. Heiner Müller, Werke l. Die Gedichte, Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998, S. 37.
13. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Wissenschaft-liche Buchgemeinschaft, Darmstadt 1983, S. 40.
14 José Bragança de Miranda, Heiner Müller. Do poder da poesia [Heiner Müller. Von der Macht der Dichtung], 23. August 1996, http://ubista.ubi.pt/miranda/Jbmreflections.html.
15 Heiner Müller, Der Auftrag. In: Heiner Müller, Revolutionsstücke, Reclam Verlage Stuttgart 1995; S. 67-6S.
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Drucksache Neue Folge 6 im Auftrag der Heiner-Müller-Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Storch Drucksache N.F. 6, Laymert Garcia dos Santos Laymert Garcia dos Santos: Heiner Müller und der Rhythmus der Zeiten/ José Galisi Filho: Gepanzerter Blick und technologischer Eros bei Heiner Müller/ u.a. p. 60-82. 2001.
DRUCKSACHE N.F.
Im Auftrag der Internationalen Heiner Müller Gesellschaft herausgegeben von Wolfgang Storch in Fortführung der von Heiner Müller begründeten, 1993 – 1996 vom Berliner Ensemble herausgegebenen Reihe.
Heiner Müller hatte als Mitglied des Direktoriums und später als künstlerischer Leiter des Berliner Ensembles die Reihe Drucksache begründet und redigiert. Parallel zur Theaterarbeit, korrespondierend und unabhängig, veröffentlichte er Texte, die ihm wichtig waren als Antwort auf die Entwicklung in Deutschland, in Europa, in der Welt.
Die Internationale Heiner Müller Gesellschaft setzt die Reihe in einer Neuen Folge fort. Sie lädt Philosophen und Künstler ein, jeweils ein neues Heft zu konzipieren, um den von Heiner Müller geführten und eingeforderten Diskurs heute weiterzutragen, um anzuzeigen, was sie in ihrer Arbeit mit Heiner Müller verbindet.
Drucksache N.F. 1 - 6
Richter Verlag GmbH, Düsseldorf
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