Sunday, 30 October 2011
Dialektik des Fragments und Realismus in der Peripherie Heiner Müller und Oswald de Andrade
Posted on 06:21 by Unknown
By stressing the idea of fragment or disruptive procedures rooted in the classical European avant-gardes, most scholarship regards it as self-evident that Müller's approach to tradition always retains its negativity. This seems often to enclose his achievements in the same aporias that once determined the failure of these movements. Nevertheless, in regard to a peripheral (i.e. non-European) context, Heiner Mueller pointed in 1979 to a "social realism" whose roots seem to lie beyond the historical European avant-garde. If the antipode figure in Der Auftrag indicates a vertical movement inside the work towards a formal alterity, one should also draw a line back to the different meanings for realism and avant-garde in two different moments of classical modernism. Heiner Muller knew in São Paulo the director Jose Celso Martinez Correa, whose theatre revolutionised the Brazilian scene in the 1960s in the name of "Anthropophagy", a programmatic insight established by the Brazilian playwriter and poet Oswald de Andrade in the 1920s.
I. Realismus als Antipode
Ich kann die Frage des Postmodernismus aus der Politik nicht heraushalten. Periodisierung ist Kolonialpolitik, solange Geschichte nicht Universalgeschichte ist, was Chancengleichheit zur Voraussetzung hat, sondern Herrschaft von Eliten durch Geld oder Macht. Vielleicht kommt in andern Kulturen anders wieder, bereichert diesmal durch die technischen Errungenschaften der Moderne, was in den von Europa geprägten dem Modernismus voraufging: ein sozialer Realismus, der die Kluft zwischen Kunst und Wirklichkeit schließen hilft, die Kunst ohne Anstrengung, mit der Menschheit auf Du, von der Leverkühn träumt, bevor ihn der Teufel holt, eine neue Magie, heilend den Riß zwischen Mensch und Natur. Die Literatur Lateinamerikas könnte für diese Hoffnung stehn. Die Hoffnung garantiert für nichts: die Literatur der Arlt, Cortazar, Marques, Neruda, Onetti ist kein Plädoyer für die Zustände auf ihrem Kontinent.(1)
In der Mitte der Wüste Nevada befindet sich eine riesige Skulptur von Michael Heizer: "Komplex 1" lautet rätselhaft der Name. Kein Museum der Welt könnte sie ausstellen im Sinne von Gehalt und Form. Sie ist eine Rampe, die ins Nichts springt oder vielleicht darauf hinweist. Wer sich die Mühe macht hinzugehen, gibt schon sein Einverständnis und wiederholt einen asketischen Gestus des Aufgebens. In der Grenze von Landschaft und menschlichem Produkt erinnert sie uns an eine gefrorene Energie, die auch mit Müdigkeit und Schweigen verwandt ist. Die Skulptur als Gestus verkörpert ein 'Fundamemt', elementar wie der Boden und seine Kräfte. Ihre Haltung ist ein lyrischer Fundamentalismus, eine Figur der avantgardistischen Orthodoxie in ihrer Reinheit.
Als Heiner Müller den Begriff eines "sozialen Realismus" in seiner Rede in New York 1979 erwähnt hat, war Der Auftrag fast schon fertig. Nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten besuchte er auch Mexiko, Bühne der antifaschistischen Intelligenz und von Anna Seghers' Erzählung Das Licht auf dem Galgen. Wenn die Erhabenheit der Landschaft seit diesem Zeitpunkt eine zunehmende Rolle in seiner Reflektionsweise gewinnt, muß man auch das Gefühl der volligen UnWirklichkeit bemerken, welches ihre Größe im Subjekt bestimmt. In Amerika z.B. erzeugen riesige Plakate einer 'fremden Zivilisation' der Waren, die den gespenstischen 'Antipoden' in Der Auftrag begleiten, mehr Wirklichkeit oder Konsistenz als das betrachtende Subjekt der Landschaft. Andererseits haben solche Plakate in einer verwüsteten Landschaft wie Mexiko oder in Vorstädten und Slums Brasiliens eine ironische Wirkung, nicht weil sie eine unmögliche Lebensweise versprechen, an die niemand glaubt, sondern im Gegenteil gerade, weil sie sich gut in diese Landschaft eingepaßt haben. Als 'Avantgarde des Wohlstands' dienen sie sogar in den Slums als Häuser und Schutz gegen das Vetter. Müller war diese Umkehrung der Sinnlichkeit und Funktionalität nicht fremd, die er als Mangel von Geschichtlichkeit in dem Stück übersetzt, ein Gefühl, daß etwas für immer verloren sei, eine Art von 'fading'-Effekt, die die ganze Struktur des Texts als "auflösende Bewegung" auf der thematischen Ebene (2) bestimmt. Der Untergang dieses Paradigmas der Revolution, ein Zenit im Himmel der Geschichte, löst sich in das Erhabene zwischen Natur und Diskurs.
Doch das Wort Realismus ist ganz eindeutig and und knüpft an die große europäische Tradition, der Linie Balzac, Stendhal und Flaubert an. Müller fügt ein Adjektiv hin zu, "sozialer Realismus", in einem peripheren Kontext, in dem der Ästhetizismus und die Reinheit der Form der orthodoxen Avantgarden nicht zueinander zu passen scheinen. Der Widerspruch zwischen diesem Begriff und der "synthetischen Herstellung eines Fragments" scheint aber ganz klar und wurde bis jetzt in der Kritik nicht als Problem erkannt. Der klassische bürgerliche Realismus, dessen Zyklus die historischen Avantgarden schließen, taucht in einem neuen peripheren Kontext wieder auf, aber "bereichert diesmal durch die technischen Errungenschaften der Moderne".
Vor allem ist der Antipode ("Mann im Fahrstuhl") in Der Auftrag der Träger einer Transitivität der Zeichen und Sinne in eine horizontale Richtung, die sich als intensive/vertikale Zeit übersetzt. Am Anfang dieses Jahrhunderts hat eine ganze Kette von literarischen Explosionen die Öffentlichkeit aller peripheren Länder erschüttert. Dieser Prozeß erweist sich in diesem Augenblick als eine qualitative Veränderung des Zeitbegriffs der literarischen Übertragung. Für die intellektuelle Elite der Dritten Welt erscheinen zunächst die Zeichen der industriellen Modernität als utopische maschinelle Bilder, deren geistige Energie immer noch ein mimetisches Potential der revolutionären sozialen Veränderung enthält. Links oder rechts verkörpern die ersten Maschinen das Zeitalter der Elektrizität oder der Dampf eine Form der geistigen totemistischen Energie, dessen irrationales Potential die faschistische Modernität sehr schnell auch nutzen würde. Aber diese reine 'Simultaneität' der Moderne als 'Avantgarde' ist scheinbar, wie auch der Antipode in Der Auftrag zeigt. Im Zentrum seines Spaziergangs steht eine Dampfmaschine auf einem abgebrochenen Gleis als ein metaphysisches Zeichen wie aus einem Gemälde von di Chirico, eine ortlose Idee ohne "Funktionalität".
Wenn wir Heiner Müller ernsthaft für einen 'Dialektiker' halten, müssen wir die dringliche Frage der 'Funktionalität' beantworten. Der Endpunkt des Spaziergangs des "Mann im Fahrstuhl" in Der Auftrag bleibt in dieser lyrischen Dampfmaschine noch 'metaphysisch'. Ihre Erscheinung ist ein 'Rest' einer 'bestimmten' Geschichte. Der Kampf des Mannes im Fahrstuhl gegen die physische Schwerkraft der Bewegung befreit seine Wörter von einem letzten 'Gewicht'. Debuisson kämpft, wie Hölderlin, um diesen Himmel der reinen Schönheit jenseits der Grenzen der historischen Erfahrung. Aber die Geschichte geht weiter als Immanenz. Es handelt sich im Gegensatz dazu um den "Lange[n] Marsch durch die Höllen der Aufklärung" (3), um mit Müller selbst zu sprechen. Im logischen Sinne existiert überhaupt kein Rest als 'caput mortum', der 'weggedacht' werden könnte, außer als eine scheinbare und gespenstische Bewegung ohne Objekt, die als tautologische Identität wiederkehrt. Die kantianische kopernikanische Revolution befreit das Denken von jener scheinbaren sinnlichen Darstell-barkeit der Figuren des Diskurses, deren Schwerkraft damals das schöne Jenseits der Metaphysik kolonisiert hat. Die sinnliche Erfahrung verliert alle Bedeutung und muß mit den leeren Kategorien des Verstandes - die in unserer sinnlichen Erfahrung keine Bedeutung haben - buchstabiert werden. Das Denken als Abenteuer ist das ortlose Zentrum, dessen Aufgabe notwendigerweise die Grenzen der Erfahrung überschreitet (4).
Wir müssen uns von jeglicher Metaphysik in bezug auf Heiner Müller für immer verabschieden. Der Antipode in Der Auftrag ist vielleicht die Wiederkunft dieser scheinbaren Bewegung, ein Epizentrum der Nicht-Identität, die keine 'Differenz', 'Hoffnung' oder 'exotischen Rest' bestimmt, sondern sie weist radikal auf unsere Immanenz als denkendes Subjekt in der Geschichte.
II. 'Deplazierte Ideen': eine ideologische Komödie
Die Hauptfrage lautet: Wie artikulieren sich die Ideen im Kontext der Peripherie mit dem internationalen System der Arbeitsteilung, wie kann man ihre Rolle in einem peripherren Kontext dialektisch artikulieren? Dies bedeutet einen völlig anderen Sinn für das historische Bewußtsein und für die Verarbeitung der Vergangenheit. In Brasilien z.B. entstand der Staat vor der Nation. Die kulturelle Eiznheit des Landes ist nur ein spätes Produkt.
Aus dieser trivialen Beobachtung lassen sich mehrere Implikationen ableiten. Diese willkürliche nationale Identität kann überhaupt nicht auf der gleichen Bahn wie die ökonomischen Beziehungen laufen. Die transplantierten europäischen Ideen im Brasilien des neunzehnten Jahrhunderts bestimmen einen nachahmenden und artifiziellen Charakter des ideologischen Lebens. Dies wurde nach der politischen Unabhängigkeit des Landes einer der Gemeinplätze der brasilianischen Kritik. In jedem Augenblick der brasilianischen Geschichte war es immer ein intellektuelles Problem, eine Aufgabe und auch eine fragwürdige Voraussetzung, Ideologien und Theorien zu diskutieren, deren Grundlagen nicht im Land entstanden sind. Getrennt von ihrem europäischen Boden gewinnen diese Ideologien eine völlig andere Funktionalität.
In dem brasilianischen Kontext der Sklaverei des letzten Jahrhunderts erschien der liberale Diskurs absurd und überflüssig. Was in Europa der Sauerstoff für die Entwicklung der Gattung Roman war, taucht in unserer Romantik wie ein 'absurdes Theater' wieder auf. Dieser Umstand sollte einen völlig neuen Begriff des Realismus bestimmen. Realistischer könnten die Romane Flauberts oder Balzacs in diesem Kontext nicht sein. Der Reichtum der Warenwelt, der den Texten Balzacs oder Flauberts unterliegt, hatte keine Entsprechung in der brasilianischen Elite. Es fehlten die Wörter, um die liberalen Beziehungen zwischen autonomen Subjekten zu übersetzen. Angesichts dieses Mangels war die gewaltige Bewegung der bürgerlichen Welt in ihrem Gipfel eine phantastische Fiktion. Die Ausübung der Gewalt bedurfte keiner ideologischen Rechtfertigung.
Doch als Muster unserer Literatur wäre diese bewegende Wirklichkeit (und deren Ideologien) nur realistisch, wenn sie umgekehrt werden würde, wenn ihre Absurdität in unserem Kontext buchstäblich als ein Anachronismus übersetzt würde und nicht idealisiert, dann hätten wir unseren Realismus gefunden, nicht als 'Rest', sondern als Modernität. Der Romanschreiber Machado de Assis (1853-1908) - unser größter Klassiker - hat diese ursprüngliche strukturelle Inkompatibilität in seine Romane eingeschrieben. Erst ein Jahrhundert später würde er seine klassische Interpretation durch den Kritiker Roberto Schwarz, der 1938 in Wien geboren wurde, finden (5).
Mit dem Begriff der Ideologie 'zweiter Hand' versucht Roberto Schwarz die 'Unwirklichkeiten' von Kultur in ihren komischen, lächerlichen oder tragischen Aspekten als formales Problem zu entwickeln. Unter dem Einfluß von Benjamin und Adorno begreift Schwarz Kulturkritik immer unter den Vorzeichen der strukturellen Inkonsistenz und Fragmentarisierung unseres kulturellen Lebens. Er charakterisiert die vorherrschende liberale Ideologie des neunzehnten Jahrhunderts in einem Land, dessen Ökonomie auf Sklaverei basiere, oder den Flower-Power-Optimismus der sechziger Jahre in Brasilien, einem Land unter einem Militärregime, wo die spätavantgardistischen Bewegungen und Positionen den Aufstieg der Medien legitimierten, in einer nicht zufälligen Konvergenz zwischen Reaktion und Fortschritt. Dieses Muster von Kulturkritik bestimmt das konkrete Erscheinungsbild seiner Deutung:
Vom liberalen Standpunkt aus war die Sklaverei - Basis der brasilianischen Wirtschaft - eine Schande, außerdem eine Rückschrittlichkeit. Vom Standpunkt der Sklavenhalter war die liberale Lehre ausländisch, antiökonomisch und abscheulich. Aber diese Position hatte den Geist des Jahrhunderts gegen sich, und ein Dichter hätte nur schwerlich die Knechtschaft preisen können, und sei es aus Nationalismus und gegen das heuchlerische England gerichtet, das uns den Handel mit den Afrikanern verbieten wollte. Das verhinderte allerdings auch nicht, daß dieser Handel ebenso wie die Institution der Sklaverei ausführlich und beharrlich verteidigt wurde [...]. Um die Verwirrung vollständig zu machen, erinnere man sich daran, daß der Sklaven haltende Großgrundbesitz bereits in seinen Ursprüngen im kolonialen 17. Jahrhundert ein Unternehmen des Handelskapitals war und daß der Gewinn schon deshalb immer seine Hauptanliegen bildete. Nun ist der Gewinn als subjektive Priorität den alten Formen des Kapitals aber ebenso zu eigen wie den allermodernsten. Also waren unsere ungebildeten und abscheulichen Sklavenhalter bis zu einer bestimmten Epoche - als diese Produktionsform unrentabler wurde als die Lohnarbeit - im Grunde viel konsequentere Kapitalisten als unsere Verteidiger von Adam Smith, die im Kapitalismus vor allem die Freiheit sahen. Man sieht schließlich, wie das Mißverständnis bereits im intellektuellen Leben existierte.
Hinsichtlich der Rationalität vermischten und verkehrten sich die Rollen auf ganz normale Weise: Die liberale Wirtschaftswissenschaft, deren Basis die freie Arbeit ist, wurde im Land nicht angewendet und roch nach Phantasie und Moralismus; der Obskurantismus hieß Verantwortung und Nationalismus; der Altruismus tendierte zur Implantation des Mehrwerts usw.
Mit anderen Worten war der Liberalismus in Brasilien Element einer ideologischen Komödie, die sich von der europäischen unterschied. Es trifft zu, daß die Freiheit der Arbeit, Gleichheit vor dem Gesetz und der Universalismus auch in Europa als Ideologie vorherrschten; dort stimmten sie mit dem Erscheinungsbild überein, da sie Wesentliches verhehlten: die Ausbeutung der Arbeitskraft. Bei uns waren dieselben Ideen in einem anderen, fast ursprünglichen Sinn falsch. (6)
Mit einer stets sich wiederholenden kafkaesken Metapher in Schwarz' Prosa: wie lautet die Stunde der Aufklärung in diesem geistigen und sozialen Kontext? Sie kann nur in der Vermittlung zwischen einer internationalen Stunde des Kapitals und ihrer gleichzeitigen Wirkung in der Peripherie bezeichnet werden. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts vor der Entstehung einer bürgerlichen Öffentlichkeit war von der künstlerischen Kopie nicht die Rede. Gerade durch die kapitalistische Vernetzung des Weltmarkts taucht in dem Bewußtsein der peripheren Eliten das Unbehagen eines imitativen kulturellen Lebens als Nebenwirkung ihrer Teilnahme an der neuen Weltordnung auf.
Diese Wirkung aber ist scheinhaft und getrennt von der lokalen sozialen Wirklichkeit, wo sie verwurzelt ist; die Idee von der Kopie ist so begrenzt auf das Bewußtsein einer winzigen Elite, aber trotzdem verallgemeinert sie sich als eine willkürliche nationale Identität, ein vorläufiges Konstrukt oder eine inkompatible Collage, die nur in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts durch die internationalen Zusammenhänge durchsichtig in beide Richtungen wird. Die schnelle Polarisierung der kommerziellen Routen entspricht auch einer zunehmenden Abhängig-keit der peripheren Länder von der Beschleunigung der Strömungen der europäischen Kunst bis zu den Avantgarden. Bei dem Versuch, die Stunde der Modernisierung zu etablieren, vertieft sich im Bewußtsein der Eliten die Kluft zwischen diesem ursprünglichen Unbehagen und dem Bedürfnis, es in einem neuen Kontext zu säkularisieren.
Diese Problematik betrifft direkt Müllers Begriff des Realismus in der Peripherie, im Augenblick der Erschöpfung der historischen Avantgarden. Dieser "soziale Realismus" wäre keine Parodie oder Nachahmung europäischer Haltungen, sondern ein wirklicher Augenblick der Bewegung des Kapitals am Rande des Systems. Dies ist keine folgenlose Beobachtung, sondern eine logische innere Entwicklung der Verbreitung des europäischen Modernismus in allen Kontinenten, dessen Internationalisierung eine komplexe Einheit und ein Selbstbewußtsein der Moderne geschaffen hat, die den ehemaligen klassischen Begriff des bürgerlichen Realismus erweitert. Dieser "Realismus" überlebt die Avantgarde und gewinnt eine neue Konsistenz.
Was aber in Europa eine historische Konvergenz zwischen Fortschritt, Avantgarde und Reaktion war, könnte nur dann als Einheit der Moderne selbst verstanden werden, wenn man die Dialektik des Fragments und der modernen Collage in der Peripherie im gleichen Augenblick der avantgardistischen Entwicklung betrachten würde. Anders gesagt: Was in Europa sich als kritische Reduktion gegen die etablierte 'Institution' Kunst erweist, erscheint schon in der Peripherie des Kapitals als mimetische Übersetzung:
- im Selbstbewußtsein und Unbehagen der Eliten gegenüber einer Wirklichkeit, in der ihre aus Europa transplantierten Ideen nicht 'passen', was eine strukturelle Inkonsistenz der Collage bedeutet, deren Wirkung für die Majorität der Bevölkerung keine Bedeutung hat;
in der Landschaft, die sich so als surrealistische 'Collage' an sich und als gegebenes Nebeneinander von Altem und Modernem erweist. Der brasilianische Kritiker Antonio Cândido (7) hat dieses Paradoxon auf folgende Weise formuliert:
Schließlich darf man nicht die Rolle vergessen, welche die primitive Kunst, die Folklore und die aufblühende Wissenschaft der Völkerkunde bei der Definierung modemer ästhetischer Richtungen spielten. Wurde doch dadurch die Aufmerksamkeit auf alte volkstümliche Elemente gelenkt, über welche der Akademismus hinweggesehen hatte. Und in Brasilien sind ja die primitiven Kulturen noch im täglichen Leben nachweisbar oder doch noch lebendige Erinnerungen aus jüngster Vergangenheit. Die schrecklichen Kühnheiten eines Picasso, eines Brancusi, Max Jacob, Tristan Tnara standen im Grunde in engerem Zusammenhang «mit diesem Teil unseres kulturellen Erbes als mit ihrer eigenen kulturellen Tradition. Die Vertrautheit mit dem Neger-Fetischismus und allerlei afrikanischen Gebräuchen sowie mit der folkzloristischen Poesie machte uns aufnahmefähig für künstlerische Prozesse, die in Europa einen tiefgehenden Bruch mit dem gesellschaftlichen Milieu und den geistigen Traditionen bedeuteten. Unsere Modernisten erhielten also sehr schnell Fühlung mit den neuesten Richtungen europäischer Kunst, lernten die Psychoanalyse und formten so einen Typ, der zugleich lokale und universelle Ideen ausdrückte, ja den europäischen Bewegungen bei einem Versenken in Einzelheiten des brasilianischen Lebens wieder begegnete. Es beeindruckt tief, wenn man z.B. die Übereinstimmung erkennt, die zwischen einem Apollinaire und einem Cocteau einerseits und einem Oswald de Andrade andererseits besteht. (8)
Cândidos Thesen über den brasilianischen Modernismus (9) könnten auf folgende Weise zusammengepaßt werden:
- Der auflösende Impetus der avantgardistischen Strömungen in ihrer uniformen endgültigen historisehen Einheit als der Zyklus des französischen Surrealismus entspricht schon in der Peripherie des Kapitals dem Zustand der Landschaft einer nachholenden Modernisierung, wo verschiedene Zeitebenen sich vermischen. Schon das Unbehagen eines imitativen kulturellen Lebens verrät dessen vorläufigen Charakter als Konstrukt. Eine Collage von André Breton oder Tzara ist die Verweigerung einer etablierten Norm in der 'Instituition' Kunst, und zwar die Aufhebung dieser normativen Institution in Lebenspraxis. Für einen brasilianischen Künstler würde die gleiche Collage nicht das Ergebnis eines intellektuellen Prozesses bedeuten, sondem zeigt sich als Nebeneinander zwischen Altem und Neuem, eine stilistische Vermischung zwischen, kolonialen Zügen und einem nachholenden Modernisierungsprozeß. Das Hauptprogramm der europäischen Avantgarden, die Befreiung von der Wirklichkeit der komplizierten, überflüssigen und scheinbaren Züge der bürgerlichen Welt, wie es sich z.B. in Brechts Ideal eines plumpen Denkens oder 'basic English', in Lenins Satz, daß der sozialistische Staat von einer Köchin zu führen sein müsse oder im surrealistischen Traum 'Paroles en Liberté', der Überführung der Dichtung in die Wirklichkeit ausdrückt, war schon scheinbare Wirklichkeit in der Peripherie. Das Fragmentarische im konstruktiven Augenblick eines Kunstwerks zeigt sich realistisch und ziemlich einfach zu erreichen als 'Parataxis', anders gesagt, das mimetische Moment ist dominant in dieser Konstruktion.
- Der zentrale Begriff des europäischen Modernismus, die Montage, wird mit einer historischen Ironie wie in Adornos Ästhetik "extraterritorial" (10), die Montage wird wieder mimetisch in dieser neuen Wirklichkeit. Diese Passage signalisiert einen Spannungsverlust der Werke, der in der Tat einer objektiven Entwicklungstendenz der modernen Kunst nicht nur im Raum, auch in der Zeit entspricht. Die modernistische Bewegung in Lateinamerika bewirkt zum ersten Mal einen entscheidenden Einfluß auf die Entwicklung der europäischen Kunst, z.B. in der Auseinandersetzung mit dem 'Primitiven'. Der Anschein der Natur aber entspricht für europäische Augen einem 'Rest', eine Landschaft am Rande der Industrialisierungsprozesse, d.h. ein romantisches Gespenst, das wieder im Zentrum des Systems als Kitsch für die Phantasie erscheint.
- Dieser Rest aber ist nicht eine 'exotische Differenz', eine 'Spiegelung' des Gleichen, ein romantischer 'Antipode' usw., der Rest ist nicht ein Subprodukt der Zivilisation, sondern selbst die Strategie der Integration der peripheren Eliten in den Weltmarkt (Sklaverei, Kaffee, oder heute Drogen, Waffen, Sex und Verbrechen). Ohne diesen 'Rest' ist es unmöglich, die Totalisierungsbewegung der modernen Kunst zu verstehen.
- Endlich erscheint der Begriff Realismus in einer umgekehrten Konstellation in der Peripherie. Getrennt von ihrem historischen Boden gewinnen diese europäischen Ideen eine entscheidend andere Funktionalität.
III. Oswald de Andrade: Anthropophagie als "ontologischer Nationalismus"
Malachites
Les amis sont arrivés avec des figures allègres
Ils venaient du chemin de la montagne
Le chemin par où l'on apporte le bois de la montagne.
Il y a un petit noble de l'almanach Gotha
Qui est nègre,
Un écrivain, un fonctionnaire et un danseur de l'Opéra
Ils se sont reflétés dans mes miroirs
Ils ont délibéré sur la maladie du danseur
Et lui ont conseillé le camphre et le phosphore.
Tous les six excepté le nègre
Nous avons mangé des cadavres
Avec du sel avec du poivre
Avec de l'huile et du vinaigre.
Le nègre ne mange que des fleurs cuites
Et les arrose d'eau bénite
Dans des bols.
Sous la vérandah de sable
De sable jaune et de cuscutes,
L'écrivain a joué de la flûte
Et il a évoqué le diable. (12)
Auf dem Höhepunkt der avantgardistischen Bewegungen in Europa plädiert der brasilianische Dichter und Dramaturg Oswald de Andrade (1893-1954) (13) für einen "ontologischen" Nationalismus durch die buchstäbliche "Einverleibung des Anderen". In seinem Anthropophagischen Manifest (14) von 1928 zeigt sich dieser radikale Impuls als eine unmögliche Identität von zwei Welten:
Tupi or not Tupi, that is the question. Nur die Anthropophagie vereint uns. Gesellschaftlich. Wirtschaftlich. Philosophisch. Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck Aller Individualismen. Aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge.(15)
Tupi war die ursprüngliche Sprache der Indianer der brasilianischen Küste, aber Oswald de Andrade formuliert ironischerweise das Paradoxon auf Englisch. Die Anthropophagie ist das Programm einer freien, klassenlosen, an matriarchalischen Urzeiten orientierten Gesellschaft. Es sei möglich, das technologische Paradies auf der Erde zu schaffen, eine technische Zivilisation ohne Krieg, "bereichert diesmal durch die technischen Errungenschaften der Moderne":
Wir wollen die Karibische Revolution. Größer als die Französische Revolution. Die Verneinungen aller wirklichen Revolten, die zum Menschen führen. Ohne uns hätte Europa nicht einmal seine armselige Erklärung der Menschenrechte. Das von Amerika angekündigte Zeitalter. Das goldene Zeitalter. Wir hatten bereits den Kommunismus. Wir hatten bereits die surrealistische Sprache. Das goldene Zeitalter. (16)
Jenseits der Sünde:
Gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, angekleidet und unterdrückend, von Freud klassifiziert, ohne Komplexe, ohne Wahnsinn, ohne Prostituierenden und ohne Strafanstalten, im Matriarchat von Pindorama. Wir haben alle katholischen, argwöhnischen» in Dramen versetzten Ehemänner satt. Freud hat Schluß gemacht mit denn Rätsel Frau und mit anderen Schrecknissen der gedruckten Psychologie. (17)
Der Modernismo Brasiliens erkor insbesondere das Primitive zum Thema; eir versuchte, Nutzen zu ziehen aus den tellurischen Dimensionen des riesigen und jungen Landes, das für den Drang nach Emanzipation vom klassisch-abendländischem Vermächtnis, von dem schon die gesamte europäische Moderne geprägt worden war, ein großartiges Reservoir an Symbolen und Bildern darstellte. Für die brasilianische Kritik seit je schlägt schließlich die Stunde, diese paradiesischen Bilder auf dem Boden der Geschichte zu säkularisieren.
Nicht nur in Brasilien aber taucht diese Metapher als Ikone der Modernität auf. Was für die Europäer der Alptraum schlechthin gewesen ist, steht nun für das Zeichen des modernen Kriegs des Materials, wo der Mensch nur ein Punkt in der Landschaft ist. Apollinaire feiert die Menschenfresserei Verduns als "Festin du Baltasar canibal". Anthropophagisch scheint auch der schnelle Metabolismus der Zeichein in den neuen Metropolen Paris und Berlin, wo die Subjektivität in der Hochzeit mit den Maschinen sich in der Landschaft auflöst. Dadaisten und Surrealisten feiern die neue Barbarei. Für den Dichter Max Jacob fressen die weißen Männer ihren Genossen mit 'Etikette', beobachtet von einem Neger, der mit christlicher Liturgie den Teufel beschwört. Nicht zu vergessen, daß bei Müller selbst Stalingrad das kannibalistische und totemistische Feiern der deutschen Geschichte ist.
Wie jede mythisch-utopische Vorstellung von Geschichte, wie das 'ewige Preußen' bei Müller, welches die Welt in der Tat schon in ein Gefängnis verwandelt hat, weist die Anthropophagie Oswald de Andrades einen Mangel im doppelten Sinne auf: Als negatives Zeichen von dem, was im europäischen Denken als mythische Vorstellung erscheint, kritisiert sie das, von dem sie sich entfernt. Die Idee Brasiliens taucht erst in der Morgenröte der Moderne in paradiesischen Bildern auf, die sich schnell in eine höllische Vorstellung der neuen Natur und des neuen Menschen verwandeln. Die Säkularisierung dieser Bilder war die erste Aufgabe der ursprünglichen kulturellen Entwicklung des Landes. Montaigne hat ein klassisches Kapitel seiner Essays über die brasilianischen 'Kannibalen' (Guaranis) geschrieben, die 1562 den Hof Karls IX. besucht haben. Erst im Jahrhundert der Aufklärung entstand unter dem Einfluß der Naturverherrlichung Rousseaus der Mythos vom 'edlen Wilden'.18 Die Idealisierung der Naturvölker und der außereuropäischen Hochkulturen wird unter einer moralischen Perspektive bewertet, von denen sich der weiße Mann eine Scheibe abschneiden könne. Deswegen entwickelt sich eine merkwürdige umgekehrte europäische Ideologie, in der die Unterjochten und Gequälten plötzlich als die besseren Menschen gelten, gerade weil sie unterentwickelt waren. Und je weiter man sich vom kolonialen Zeitalter distanziert, je stummer die ungezählten Opfer der Vergangenheit werden, desto mehr scheint sich diese Indianer-Romantik im europäischen Bewußtsein auszubreiten.
Bei Oswald de Andrade taucht diese umgekehrte Vorstellung wieder invertiert auf. Gegen eine weberianische Ethik der Arbeit und Zweckrationalität setzt er eine positive Bewertung der Faulheit unter der Sonne (immer im Zenit) in der Welt 'Pindorama'.(19) Das Verschwinden der Arbeit als historische und analytische Kategorie schafft eine ewige Gegenwart, wo es keine Distanz mehr zwischen den Zeichen und den Sachen selbst gibt:
Kinder der Sonne, Mutter der Lebenden. Vorgefunden und grausam geliebt von den Eingewanderten, den Eingeschleppten und den Touristen, mit der ganzen Heuchelei von Sehnsucht. Im Land der großen Schlange. Im Matriarchat von Pindorama. Gegen die Erinnerung, Quelle der GewolLnheit. Die erneuerte persönliche Erfahrung. Wir sind Konkretisten. Die Ideen geben Obacht, reagieren, verbrennen Menschen auf öffentlichen Plätzen. Laßt uns die Ideen und andere Lähmungen abschaffen. Für die Richtungen. An Zeichen glauben, an die Instrumente und an die Stenme glauben. Gegen Goethe. (20)
Die Anthropophagie erweist sich als eine positive Haltung gegenüber den Ruinen der europäischen Zivilisation: es ging darum, auszubeuten und zu verdauen, was schon zerstört war nach der 'Menschenfresserei' in Verdun. Die programmatische kannibalistische Metapher war gleichzeitig Zeichen der- Feindlichkeit gegen die kulturelle Kolonisation und der Wunsch, alle ihre Güter auszubeuten, d.h. ohne den Preis eines totalen Krieges zu bezahlen: Sie ist kritisch und naiv, euphorisch, aber auch ein Zeichen unserer intellektuellen Inkonsistenz und Unfähigkeit, ein organisches kulturelles Lebens zu erreichen.(21)
Oswald de Andrade ist ohne Zweifel die emblematischste Figur des brasilianischen Modernismus und verkörpert wie sonst niemand die Idee eines radikalen Sprungs in die Arena der Moderne. Das Wort Arena erinnert bei ihm an einen der größten Einflüsse auf seine Dramaturgie: Der Zirkus als vorbürgerliche Erscheinungsform des institutionalisierten Theaters und Versprechen einer nachbürgerlichen Erfahrung in der Kommune (Der Mann und die Pferde). Andrade hat seine einzigen drei Stücke in den Dreißigern, im Kontext der Krise von 1929, in der Erwartung einer kommunistischen Weltrevolution geschrieben. Doch sie wurden erst in den sechziger Jahren wiederentdeckt durch die klassische Inszenierung von Der König der Kerzen durch José Celso Martinez Correa.
In dem dreiaktigen Stück, das 1934 entstand, zeigt Oswald de Andrade mit grotesken Elementen diesen neuen Zusammenhang zwischen dem Bürgertum und der Landaristokratie des Staates Sâo Paulo, wo beide Klassen in Gestalt ihrer Vertreter, des Wucherers und Industriellen Abelardo I (König der Kerzenindustrie) und der agrarisch-feudalen Heloisa de Lesbos, Angehörige der Kaffeearistokratie, sich vermischen. Abelardo wird Heloisa heiraten, um damit als neuer Besitzer des Landes gekrönt zu werden. Die desublimierte Gestaltung der Charaktere erinnert ganz deutlich an das psychologische Mißtrauen eines Brecht, aber Andrade unterlag keinem direkten Einfluß der epischen Dramaturgie. Aber wenn es sich um das Bürgertum handelt, verbindet Andrades Schematismus notwendigerweise freudianische Perversionen der Klasse mit dem Bedürfnis, das Publikum in seiner entfremdeten Lage zu provozieren. Die Kerze ist ein phallisches Symbol. Abelardo I wird von Abelardo II (seinem Doppelgänger und Nachfolger) verraten, aber am Ende bleibt Heloise bei dem Amerikaner Mr. Jones, einer krassen Metapher des Imperialismus, der bis jetzt die Handlung aus der Ferne beobachtet hatte. Mit der Krise von 1929 beginnt auch die politische und finanzielle Hegemonie der USA über Brasilien.
In seiner Inszenierung von 1967 radikalisierte der Regisseur José Celso Martinez Correa die Montage von heterogenen Stilen, die im Text angelegt sind: Zerstörung der Bühnenillusion, Verwendung extrem theatralischer Schockwirkungen an der Grenze zum Kitsch. Die Kannibalisierung der Geschichte war auch ein Exorzismus des Theaters durch die exzessive Betonung sexueller Elemente. Unter dem Zeichen des anthropophagischen Manifests, verwandelt sich die Inszenierung in eine Synthese der 68er Generationserfahrung, deren Haltung gegenüber den neuen Medien positiv war.
IV. Eine Debatte
Heiner Müller hat den Regisseur José Celso bei seinem Besuch in São Paulo persönlich kennengelernt. Zuerst sah Müller eine Aufführung der Hamletmaschine des Regisseurs Márcio Aurélio mit der Schauspielerin und Tänzerin Marilena Ansaldi, ein Star auf Brasiliens Bühne, die alle IRollen als 'Performance' in einer Art elektronischier Arena spielte, wo ihr Bild sich in alle Richtungen spiegelte. Müller war sehr beeindruckt von der Performance, einer expressiven Übung im radikalen Gegensatz zu Bob Wilsons kühnem minimalistischen Stil. Anwesend war auch der Regisseur Gerald Thomas, der Quartett zwei Jahre zuvor in Rio de Janeiro inszeniert hatte und während dieser Spielzeit gerade eine 'Trilogie' mit Texten von Kafka vorbereitete.
José Celso war überhaupt nicht an Heiner Müller interessiert und nutzte che Gelegenheit, die neuen Regisseure anzugreifen, die die neuen deutschen Dramen (Botho Strauß, Franz Xaver Kroetz) oder sogar deutsche Klassiker, getrennt von unserer national geprägten, rituellen Körperlichkeit, d. h. der religiösen Vermischungen von Katholizismus und Negerritualen unter dem Zeichnen des Matriarchats, inszenieren. Brechts Erbe sollte ausgeklammert wer-den nach José Celso, weil es als System und Voraussetzung der Moderne tiefe Wurzeln in BrasiLien während der letzten Jahrzehnte geschlagen hatte. Brecht war bereits von ihm in zwei nachhaltig wirksamen Aufführungen von Leben des Galilei und Im Dickicht der Städte kannibalisiert worden.
José Celso, im Augenblick selbst mehr den 'Baal' spielend, war schon irmmer ein Gegner anderer emigrierter deutscher Intellektueller wie Roberto Schwarz oder des Berliner Kritikers Anatol Rosenfeld, die er 'deutsche Professoren' nannte, deren transplantierter dialektischer begrifflicher Apparat nicht imstande sei, die brasilianisch« Wirklichkeit zu verstehen. Roberto Schwarz seinerseits war auch mit seiner theoretischen Ar-tillerie eine isolierte Figur in den Sechzigern und vielleicht als einziger in der Lage, die Konvergenz zwischen der konservativen Modernisierung der Diktatur und den selbst reklamierten avantgardistischen Tendenzen in Musik ('Tropicalistische Bewegung'), (23) Dichtung ('Konkrete Dichtung') und im Theater zu verstehen, welche in diesem Augemblick, im Namen des anthropophagischen Mythos der Einverleibung, die innere und strukturelle Wahrheit Brasiliens als 'Collage' zu entdecken glaubten. In den Sechzigern gab es eine fast völlige Vermischung zwischen dem Aufführungsstil von José Celso und der neuen 'tropicalistischen Musik', die die surrealistische Montage eines archaischen Brasiliens und die moderne Landschaft der Städte als Allegorie des nationalen Charakters propagiert hatte:
Faced by a tropicalist image, faced by the apparently surrealist nonsense which is the result of the combination we have been describing the up-to-date spectator will resort to fashionable which words, he'll say Brazil is incredible, it's the end, it's the pits, it's groovy. By means of these expressions, in which enthusiasm and disgust are indistinguishable, he associates himself with the group who have the 'sense' of national character. But on the other hand, this climate, this imponderable essence of Brazil is very simple to construct, easy to recognize and reproduce. It is a linguistic trick, a formula for sophisticated vision, within many people's grasp. What is the content of this snobbery for the masses? What feelings does the tropicalist sensibility recognize itself and distinguish itself by? (By the way, just because it is simple it is not necessarily bad). [...] However, let's move on to another question: what is the historical foundation of the tropicalist allegory? (24)
Doch dieses emblematische Bild Brasiliens, so behauptet Roberto Schwarz Jahre später (25) in einer historischen Bilanz, sei 'gefroren' und nicht dialektisch. Die surrealistische Collage in der 'Tropikalistischen Musik' als 'Allegorie der Unterentwicklung' verabsolutiert ein Dilemma, das in jedem historischen Augenblick verschiedene Bedeutungen gewinnt und jedenfalls von einem Klassenstandpunkt abhängt. Dieses 'absurde Bild' der Collage, anstatt einen Schockeffekt zu produzieren, verhindert eine dialektische Vorstellung der Geschichte als Veränderung und verdeckt einen tiefen Konformismus:
Once this anachronistic conjunction has been produced, along with the conventional idea that this is Brazil, the 'ready-made' images of the patriarchal world and of imbecilic consumerism start signifying on their own, in a shameless, unaestheticized fashion, over and over again suggesting their stifled, frustrated lives, which we will never get to know. The tropicalist image encloses the past in the form of images that are active, or that might come back to life, and suggests that they are our destiny, which is the reason why we can't stop looking at them. (26)
Konformistisch sei auch angesichts der medialen Modernisierung des anthropophagischen 'Wahnsinns' Jose Celsos Theater, das mit seinem Galilei in der Szene 'Karneval in Florenz' während der schlimmsten Repression der Diktatur 1968 die linken Intellektuellen im Bild des alten Galilei erniedrigt, damit die dionysischen Kräfte des 'Abschaums', d.h. 'das Volk', siegen können.
Kurz, die kulturellen avantgardistischen Positionen, die die Diktatur zu "bekämpfen glaubten, dienten ihr doch mit ihrem Impuls und ihrer Neigung zu fragmentarischen Eingriffen, erwiesen sich als blindes Element einer konservativen Modernisierung, die zuerst eine Revolution in der medialen Struktur des Landes schafft, um es in den Weltmarkt mit einem starken und in einem technischen Simne qualitativen Fernsehern zu integrieren, so daß in den nächsten Jahren eine Fernseh-Dramaturgie exportiert wird, die durch 'anthropophagische Ingredienten' der ethnischen Vermischung und des erotischen Paradieses geprägt ist: Natur, schöne Frauen, Einladung zum billigen Sextourismus des europäischen Debuisson.
Was nun in den dreißiger Jahren auf dem Höhepunkt der europäischen Avantgarden unter dem Zeichen der Negativität stand, wurde zum zen-tralen Gemeinplatz und Dilemma der brasilianischen Kultur, fast ein zivilisatorischer Komplex: Unsere Identität ist eine Parodie, eine Collage von verschiedenen inkompatiblen Elementen. Diese Fragmentarisierung wird durch die Mentalität der Eliten begründet, deren Selbstbewußtsein verhält sich schizophren gegenüber den europäischen geistigen Strömungen und dem Bedürfnis, eine organische Kultur im Land zu entwickeln, aber aus dieser Not sollten wir eine Tugend machen. Die Anthropophagie war das anachronistische Lob dieses Dilemmas. Mit anderen Worten: Es wäre für einen brasilianischen Künstler einfach, diese absurde Collage zwischen einem archaischen Brasilien und der Moderne zu schaffen. Das Theater José Celsos und die Tropikalistische Musik haben diese allegorische Verfahrungsweise wieder aktiviert und deswegen noch einmal versagt, den historischen Augenblick selbst zu interpretieren:
The coexistence of the old and the new is a general (and always suggestive) feature of all capitalist societies and of many others too. However, for the countries which were once colonized and have now become underdeveloped, it is central, and carries the power of an emblem. This is because these countries were incorporated into the world market - the modern world - in an economically and socially backward role, that of suppliers of raw materials and cheap labour. Their link to what is new is made structurally, by means of their social backwardness, which reproduces itself, instead of cancelling itself out. In the insoluble functional combination of these two terms, then, the plan of a national destiny is laid out, there from the beginning. What is more, by cultivating 'latinoamericanidad' - in which there is a faint echo of the continent-wide dimension of the revolution - which in Portuguese-speaking Brazil is extremely uncommon, the tropicalists show that they are aware of the implications of their style And it is true that, once this way of looking at things has been assimilated, the whole of Latin America does turn out to be tropicalist. (27)
Als Brasilien sich unter einer Militärdiktatur (1964-1985) befand, die ganz modern war, wird diese Metapher endlich institutionalisiert und legitimiert, als die Gründung eines integrierten Netzwerks, das schließlich die kulturelle Einheit des Landes als unmögliche Collage der Fragmente im Fernsehen geschaffen hat: ein 'riesiges Land' mit einer ungeheuren sprachlichen Einheit sieht sich zum ersten Mal im Fernsehen als einen zerbrochenen Spiegel vermittelt durch mythische Vorstellungen.
In der Diskussion zwischen Müller und Celso verteidigt dieser gegenüber Heiner Müller die These, daß das deutsche Gegenwartstheater in Brasilien nicht nur etwas Fremdes sei, sondern feindlich zur Körperlichkeit stehe, die in der Einheit mit dem Mythos selbst Vernunft ist, für den Kritiker, Dichter und Hauptvertreter der konkreten Dichtung, Haroldo de Campos, eine "kannibalische Vernunft", (28) die unsere Teilnahme an der zivilisierten Welt sichert. In seiner artaudschen dramaturgischen Anthropologie versteht José Celso buchstäblich die Idee der kulturellen Anthropophagie als einen letzten totemistischen Akt von Befreiung und behauptet mit Leidenschaft, daß alles andere Kolonialismus bedeutet, sei es in der Form des akademischen deutschen 'emigrierten Mandarinats' oder als Inszenierungen der anderen brasilianischen Regisseure, die ihren Ruf in den Medien mit dem internationalen Prestige des deutschen Gegenwartsthea-
ters gewinnen, ohne Wurzeln in der brasilianischen Wirklichkeit zu haben. Die früheren Einflüsse von Amerika und Frankreich werden jetzt durch einen deutschen theatralischen Kolonialismus ersetzt, der inkompatibel mit der ethnischen und straßenkarnevalistischen Tradition unseres historischen Theaters ist und natürlich mit der Haltung Oswald de Andrades.
Es beginnt ein Disput zwischen José Celso und Gerald Thomas, in dem José Celso sagt, daß er der Shakespearsche "verratene König des brasilianischen Theaters" sei, er sei "das ewige Gespenst der Anthropophagie", um Hamletmaschine auf unseren Boden zu bringen, und daß die neuen Regisseure nur wie Spielberg "spezielle Effekte" kennen, um "europäische Ruinen sehr gut zu beleuchten", ohne Rücksicht auf unseren Mangel, weil diese Wirklichkeit ihnen "unerträglich" ist. Müller solle "einverleibt werden". Müller lachte dazu.
José Celso macht eine Art von obszöner Performance, er sagt, was Theater im artaudschen Sinn sein sollte. Die Übersetzung hört ab diesem Punkt etwa 30 Minuten auf. Müller versteht kein Wort auf Portugiesisch, lacht, raucht und trinkt lachend, wenn das eine oder andere Schimpfwort auf Deutsch übersetzt wird. Müller und José Celso befinden sich in einem Spaziergang mit dem Gespenst Oswald de Andrades auf zwei verschiedenen Zeitebenen. Hätte Müller die Sprache verstanden, wäre dieser Kamp gegen die kulturelle Unterentwicklung auch ein Problem für ihn als "Neger" der ehemaligen DDR, die auf den "Müll der Geschichte" geworfen worden ist, und so hätte direse Begegnung anders verlaufen können. Dies war eine versäumte Möglichkeit. Nur fünf Jahre später wird eine Truppe aus Bahia, Salvador, Olodum Medeamaterial inszenieren; aber noch einmal, Heiner Müller war nur ein Prätext und die Inszenierung ein völliger Fehlschlag.
V. Schluß
"Ich wußte noch nicht und ich ahnte schon, daß man kein Indianer bleiben kann, wenn man mit Kunst etwas ausrichten will". (29) Dieser Satz ist die mögliche Übersetzung von denn, was passiert ist. Das war auch meine einzige persönliche Begegnung mit Heiner Müller, der für mich immer Literatur war (30), bevor ich Herzinger und Domdeys Thesen bei meinem Forschungsbesuch 1992 in Deutschland kennenlernte. Es war schon für mich ein praktisches und zugleich theoretisches Problem, Müller in diese konservative Kreuzung eines nachholenden Modernisierungsprozesses einzuordnen, wo das Fragmentarische seines Theaters, das dem avanciertesten Material in Europa entspricht, in der Peripherie eine andere Funktionalität gewinnt. Diese Dialektik hätte ihn ganz sicher interessiert. Am Ende lädt José Celso Müller zu seinem Theater der mythischen 'Oficina Usina Ozona' ('Kraftwerk des Wahnsinns') ein, wo Celso unter dem Einfluß von afrikanischen Ritualen alles ritualisiert und karnevalisiert. Müller ging nicht hin und reiste in Richtung Süden in das 'deutsche Brasilien' der weißen Haut und der blauen Augen.
ANMERKUNGEN
(1) Heiner Müller: Der Schrecken die erste Erscheinung des Neuen. Zu einer Diskussion über Postmodernismus in New York. In: Rotwelsch. Berlin 1982. S. 94-98, hier S. 95f.
(2) "Yet paradoxically, this apparent reappearance of familiar ordering structures is paired with inherent ambiguity on the thematic level [...]. A diffuse movement that cannot be bound to a clear perspective or intention, a movement into a realm of questions for which there are no-authorial, authoritative answers". Arlene Teraoka: The Silence of Entropy or Universal Discourse: The Postmodernist Poetics of Heiner Müller. Frankfurt/M. 19S5. S. 123.
(3) Heiner Müller: 'Shakespeare: eine Differenz'. In: Heiner Müller Material. Texte und Kommentare. Hg. v. Frank Hörnigk. Leipzig 1989. S. 105.
(4) "Durch einen solchen Beweis von der Macht der Vernunft eingenommen, sieht der Trieb zur Erweiterung keine Grenzen. Die leichte Taube, indem sie im freien Fluge die Luft teilt, deren Widerstand sie fühlt, könnte die Vorstellung fassen, daß es ihr im luftleeren Raum noch viel besser gelingen werde. Ebenso verließ Plato die Sinnenwelt, weil sie dem Verstände so enge Schranken setzt, und wagte sich jenseits derselben auf den Rügein der Ideen in den leeren Raum des reinen Verstandes." Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Darmstadt 1983. S. 40.
(5) Roberto Schwarz: Misplaced Ideas: Essays on Brazilian Culture. Hg. u. mit Einf. v. John Gledson. London 1992. S. 15-16.
(6) Roberto Schwarz: Wer sagt mir, Machado de Assis sei nicht Brasilien? In: Brasilianische Literatur. Hg. v. Mechthild Strausfeld. Frankfurt/M. 1984. S. 56-58.
(7) Antônio Cândido, der im Jahre 1918 geboren wurde, gilt als der bedeutendste brasilianische Kritiker dieses Jahrhunderts. Im Zentrum seiner Methodologie steht die Vermittlung zwischen Literatur und Gesellschaft und die Idee als Aufklärungsprozeß. In der brasilianischen Kritik bedeutet Cândido, was Hans Mayer für die Bundesrepublik Deutschland ist. Ihre Themen und Methodologien
(8) Antonio Cândido: Die Literatur als Ausdruck der Kultur im zeitgenössischen Brasilien. In: Staden-Jahrbuch-, Beiträge zur Brasilkunde. Bd. 1. Hg. v. Institut Hans Staden. São Paulo 1953. S. 30.
(9) In Brasilien läßt sich der Beginn der Modernität präzis datieren: 1922, als in São Paulo eine "Woche der modernen Kunst" stattfand. Es war die Antwort auf den französischen Einfluß, der programmatisch überwunden werden sollte. Oswald de Andrade und Mário de Andrade waren die Vaterfiguren der Bewegung.
(10) Peter Bürger erkennt in der inneren Entwicklung von Adornos Begriff des Materials zwischen der Philosophie der neuen Musik, Dissonanzen und Minima Moralia einen entscheidenden Bewertungsunterschied mit radikalen Folgen für das Montageprinzip bei Strawinsky und Schönberg. In einer ersten sehr eindeutigen Analyse schließt Adorno die Idee der Collage in der neo-klassizistischen Restauration aus dem Feld der Moderne aus, wenn sogar diese das emanzipatorische Moment des Kunstwerks für avanciert ausgibt; in einem anderen Kontext dagegen schafft er Platz für die gleiche Verfahrensweise Strawinskys innerhalb der modernen Kunst als Erweiterung der surrealistischen Collage. In dieser Grund-Extraterritorialität des Montageprinzips erweist sich bei Adorno die Angst vor dem Regressionspotential der Gewalt und Willkürlichkeit, die ihm zugrundeliegt. Im Gegensatz zu diesem Prinzip steht die immanente "Durcharbeitung der Form" als dialektische Vermittlung in der inneren Bewegung des Materials. Die Folgen sind eindeutig. Wenn das Kraftfeld eines Kunstwerks als Konstellation verschiedener technischer Probleme in ihren verschiedenen Schichten und Zeitebenen für die Einheit einer Epoche als unbewußte Geschichte sprechen soll, kann es nur ein avanciertes Material geben. Dies erscheint fast als eine normative und "dezisionistische" Dimension von Adornos Ästhetik, die immer eine zunehmende Unmöglichkeit dieser Saturationsprozesse betont. Peter Bürger fordert eine neue Bewertung von Adornos Eindeutigkeit, um genau die Folgen dieser Entwicklung zu verstehen, wo in unserem Horizont nicht mehr ein bestimmtes Material als das historisch fortgeschrittenste sich ausmachen läßt, sondern viele Materialien, und plädiert infolgedessen für eine pluralistische Lesart als dialektische Weiterentwicklung der Moderne, erweitert um "relevante Phänomene der gegenwärtigen Kunstproduktion" wie die Verwendung realistischer Techniken in Peter Weiss' Die Ästhetik des Widerstandes. Peter Bürger: Das Altern der Moderne. In: Adorno-Konferenz. Hg. v. Ludwig von Friedeburg u. Jürgen Habermas. Frankfurt/M. 1983. S. 193.
(11) Kritische Metapher von Haroldo de Campos, Hauptvertreter der 'Konkreten Dichtung' in Brasilien, der einen großen Teil seiner Arbeit dem kritischen Studium Oswald de Andrades widmete. Haroldo de Campos: Über die anthrophagische Vernunft. Europa im Zeichen des Gefressenwerdens. Im: Lateinamerikaner über Europa. Hg. v. Curt Meyer-Clason. Frankfurt/M. 1987. S . 103.
(12) Max Jacob: Le Laboratoire Central. Paris 1980. S. 76.
(13) Oswaldo de Andrade stammte aus einer alten und reichen Familie der Aristokratie des Kaffees, die eine moderne Neigung im Gegensatz zu anderen Regionen des Landes hatte, und entwickelte eine komplexe Beziehung zu einer bürgerlichen Intelligenz am Anfang der Industrialisierung São Paulos. Das Werk Oswald de Andrades ist auch eine erhellende Zeugenaussage, die eine tiefe soziale Veränderung der brasilianischen Gesellschaft aus dem ursprünglichen kolonialen Hintergrund zu den ersten bürgerlichen Beziehungen in den Städten, etwa wie Brechts paradigmatischer Weg von Augsburg durch München zur Metropole Berlin, aufzeigt. Was Berlin für Brecht bedeutet als Rausch und Geschwindigkeit des Kapitals, das im stilistischen Gestus als Kampf übersetzt wird, ist für Oswald de Andrade São Paulo als leidenschaftliches Objekt.
(14) Oswaldo de Andrade: "Anthropophagisches Manifest". In: Lettre Nr. 11 (1990). S 40-41. Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann. Erschien zuerst in Revista de Antropofagia. Nr. 1. São Paulo, Mai 1928. S. 20-21.
(15) Ebd. S. 40.
(16) Ebd.
(17) "Der Kampf zwischen dem, was man das Ungeschafftene nennen könnte, und der Schöpfung - veranschaulicht durch den ständigen Widerspruch zwischen dem Menschen und seinem Tabu. Die alltägliche Liebe und der kapitalistische modus vivendi. Anthropophagie. Einverleibung des heiligen Feindes. Um ihn in ein Totem zu verwändeln. Das menschliche Abenteuer. Die irdische Zielsetzung. Dennoch ist es nur den reinen Eliten gelungen, die fleischliche An-thropophagie zu vollziehen, die den höchsten Lebenssimn in sich trägt und alle vom Freud ausgemachten Leiden sich erspart, katechetische Leiden. Was geschieht, ist nicht eine Sublimierung des Geschlechtstriebes. Es ist die Wärmeskala des anthropophagischen Triebes. Erst fleischlich, wird er wählerisch und schafft die Freundschaft. Affektiv, schafft er die Liebe. Spekulativ, die Wissenschaft. Er weich ab und überträgt sich. Wir kommen zu seiner Herabwürdigung. Die niedere Anthropophagie, angehämift in den Sünden des Katechismus - Neid, Wucher, Verleumdung, Mord. Die Seuche der sogenannten gebildeten und christianisierten Völker ist es, wogegen wir vorgehen. Die Anthropophagen." Ebd. S. 41.
(18) Im Anthropophagischen Manifest Andrades heißt es: "Der natürliche Mensch. Rousseau. Von der französischen Revolution zur Romantik, zur Bolschewistischen Revolution, zur Surrealistischen Revolution und zum technisierten Barbaren Keyserlings. Wir sind auf dem Weg". Ebd. S. 41.
(19) 'Pindorama' ist der ursprüngliche indianische Name Brasiliens, der von Andrade übernommen wird, der es damit in Gegensatz zu 'Brésil', dem französischen Namen des Holzes, bezeichnet. Sogar der Name Brasiliens ist Attribut der Kolonisatoren.
(20) Ebd. S. 41
(21) Das Anthropophagische Manifest läßt sich den großen Manifesten der europäischen Avantgardebeweguangen an die Seite stellen. Wie in den dadaistischen Manifesten geht es auch in dem Text von Oswald de Anolrade um den Ausdruck einer radikalen Revolte, hier gegen die Kolonisierung des Landes, die ja mit der Unabhängigkeit nicht beendet war, sondern in der intellektuellen Kolonisierung eine Fortsetzung gefunden hat. 'Tupi or not Tupi, that is lhe question'. Dagegen setzt: Andrade die Reste einer Karibischen Kultur: 'ein teilmehmendes Bewußtsein, eine religiöse Rhythmik' und 'die prälogische Mentalität' sowie den Synkretismus aus Katholizismus und einheimischen Kulturen: 'Wir ließem Christus in Bahia zur Welt kommen'. Andererseits heißt es auch: 'Gegen den Kerzenstock-Indio. Den Manriensohn-Indio'. Ob es sich dabei um provokatorische Selbstwidersprüche handelt 'wie im Dadaismus oder ob das, was mir als Widerspruch erscheint, anders zu interpretieren ist, um das zu entscheiden, dazu fehlen mir die Kontextkenntnisse. Übriggens, Alfred Lorenzer, eim der Frankfurter Schule nahestehender Psychoanalytiker, hat in seiner Kritik des Zweiten Vatikanischen Konzils, Das Konzil der Buchhalter (1981), die Ritualle und gegenständliche Symbolik der lateinameri-kanischen Kirche als 'begrenzten Freiraum für die Unterdrückten' beschrieben, um Ihre Lebensentwürfe,und Lebensformen zum Ausdruck zu bringen. Mich hat diese Deutuing, die zugleich Kritik eines rationalistisch verengten Aufklärungsbegriffs ist, überzeugt. Aber um auf Ihre Frage nach der Einschätzung des Anthropophagischen Manifests zurückzukommen, vielleicht kanm man sagen, daß der Eingeborene darin die Stelle einnimmt, die im ersten Manifest des Surrealismus dem Kind eingeräumt wird. In beiden Texten würde gegen westliche Modernisierung und Rationalisierung auf einen Ursprung verwiesen, zu dem es kein Zurück gibt. Die Stärke dieser Texte bestünde dann darin, daß sie die ihnen zugrundeliegende Aporie eingestehen." Peter Bürger: Interview für Folha de São Paulo über die portugiesische Fassung seiner Theorie der Avantgarde. São Paulo. Dezember 1998 (erscheint voraussichtlich 1999).
(22) Marcos Augusto Gonçalves: Heiner Müller defende o Teatro sem Direção ("Heiner Müller verteidigt ein Theater ohne Regie"). Folha de São Paulo vom 20. 7.1998.
(23) Die Tropicalistische Bewegung war eine musikalische Richtung, deren Hauptvertreter Caetano Veloso und Gilberto Gil waren. Sie vermischten die melodischen Elemente der brasilianischen Volksliedtradition mit elektronischen Erfindungen.
(24)Roberto Schwarz: Brasilien Kultur und Politik 1964-1969. In: Misplaced Ideas: Essays on Brazilian Culture (wie Anm. 6). S. 141. Ebd. S.144.
(25) Ebd. S.144.
(26) Ebd.
(27)Ebd. S.141 und S. 142.
(28) Im Gegensatz zu Roberto Schwarz, dessen dialektische Methode nicht das Barock in die Entwicklung der brasilianischen literarischen Tradition einordnet, verteidigt Haroldo de Campos eine "anthropophagische Vernunft": "Bereits im Barock wächst eine anthropophagische Vernunft heran, die den vom Okzident vererbten Logozentrismus dekonstruiert. Differenzierend im Universalen begann von dorther die Verdrehung und Verrenkung eines Diskurses, die uns aus demselben hätten herausreißen können. Es ist eine Antitradition, die durch die Leerräume der traditionellen Geschichtsschreibung geht, durch ihre Lücken infiltriert wird und durch ihre Risse sickert. Es handelt sich um Antitradition nicht aufgrund direkter Abkunft - das wäre nur der Ersatz einer Geradlinigkeit durch eine andere -, sondern aufgrund von Anerkennung bestimmter Entwürfe und Nebenwege auf der ganzen Länge des bevorzugten Leitfadens der normativen Geschichtsschreibung." Haroldo de Campos (wie Anm. 12). S. 108
(29) Heiner Müller: "Ich wollte lieber Goliath sein". In: Heiner Müller Material (wie Anm. 3). S. 60.
(30) "Müller sagt Geschichte, meint aber Trauma. Er sagt Proletariat, meint aber das Erhabeme. Er sagt Revolution und meint Literatur." Richard Herzinger: Masken der Lebenswevolution. Vitalistische Zivilisations- und Humanismuskritik in Texten Heiner Müllers. München 1992. S. 10.
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