Wednesday, 2 November 2011
Interview mit dem Bundespräsidenten Johannes Rau für die Zeitung „Journal do Brasil“ vom 26.03.2000, Rio de Janeiro
Posted on 07:12 by Unknown
Antworten von Bundespräsident Johannes Rau auf die Fragen von Herrn José Galisi-Filho für die Zeitung „Journal do Brasil“ vom 26.03.2000, Rio de Janeiro.
Frage 1:
Welche Traditionen der BRD sind denn für Sie unverzichtbar, die in der neuen Berliner Republik übernommen werden sollten?
Antwort:
Wir gründen unser demokratisches Staatswesen, die Bundesrepublik Deutschland, nicht neu weder mit der Vereinigung unseres geteilten Landes 1990 noch gar mit dem Umzug unserer Hauptstadt von Bonn nach Berlin. Wir sind und bleiben die Bundesrepublik Deutschland, und ich sehe keinen Grund, auf Namenssuche zu gehen. Auch das vereinte Deutschland braucht eine Politik der guten Nachbarschaft nach innen und nach außen. Deutsche Sonderwege verbieten sich in unserem eigenen Interesse. Wir brauchen eine Politik, die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit mit sozialer Gerechtigkeit verbindet. Auch die Orientierung an den Grundsätzen der Aufklärung bleibt eine Auftrag, der ganz unabhängig davon ist, wo Gesetze geschlossen und wo politische Entscheidungen getroffen werden. Der Umzug nach Berlin bedeutet gewiss keinen Weg zurück in den klassischen Nationalstaat. Das Erfolgsmodell, dem wir - wie ja auch Brasilien - verpflichtet bleiben wollen, ist die bundesstaatliche Ordnung.
Frage 2:
"Globalisierung" bedeutet zunächst einmal einen technologischen Sprung, der die Kosen für Kapital- und Finanztransfers faktisch gegen Null und das Transfertempo auf Lichtgeschwindigkeit gebracht hat. Kapitalwert wird heute nicht mehr in Mark und Dollar und schon gar nicht mehr in Edelmetall gemessen, sondern in Bits und Bytes. Das heutige Spannungsverhältnis zwischen Staat und Ökonomie ergibt sich zu einem beträchtlichen Teil aus der "Inkongruenz" von Staatsraum und Wirtschaftsraum, die sogar zu einer Denationalisierung des Staates führt. Selbst die Chefdenker der Deutschen Bank wollen den "Kapitalismus zähmen". Wie kann Demokratie in diesem neuen Kontext erneut begründet werden?
Antwort:
Die Vorteile der Globalisierung sind unbestreitbar: Verstärkte Zusammenarbeit, vorteilhafte Arbeitsteilung und verbesserte Ressourcennutzung. Aber wir müssen auch ihre Schattenseiten und Gefahren sehen - einige haben sie in ihrer Frage benannt. Globalisierung nutzt nicht jedem und nicht jeder kann mit ihr umgehen. Finanztransfers in Lichtgeschwindigkeit, rasante Entscheidungsabläufe und umfassende Mobilität nutzen dem Einzelhändler in der Kleinstadt kaum.
Der Mensch ist außerdem ein verwurzeltes Wesen, das Bindungen braucht - er braucht örtliche wie geistige Heimat. Beides ist den Gesetzen des unbeschränkten, globalisierten Marktes fremd. Alles, was bisher Gewicht und Bedeutung hatte, wird in Frage gestellt: Kulturelle und regionale Identität, nationale Souveränität, weltanschauliche Differenzen.
Dem Herrschaftsanspruch des Marktes müssen wir daher jene Werte entgegenhalten, die sich nicht in Preisen ausdrücken lassen, unsere Gesellschaft jedoch zusammenhalten: Mitmenschlichkeit, Beständigkeit, Treue, Verlässlichkeit, freiwilliges bürgerliches Engagement. Recht und Würde des Einzelnen brauchen zugleich den Schutz durch starke Institutionen der Gemeinschaft. Institutionen, die nicht nur auf die Gegenwart orientiert, sondern strukturell auch um die Zukunft der Kinder und der nachfolgenden Generationen besorgt sind. Wir müssen daher über die Aufgabe des Staates in einer globalisierten, nationale Grenzen aufweichenden Welt neu diskutieren. Ging es noch vor wenigen Jahrzehnten darum, dem Staat bürgerliche Freiheitsrechte abzutrotzen, so kommt ihm heute die Funktion zu, die in der Vergangenheit erkämpften Errungenschaften zu bewahren und zu verteidigen, damit nicht schrankenlose wirtschaftliche Freiheit zu individueller Unfreiheit und zu sozialen Verwüstungen führt. Ein Gemeinwesen, ein Staat, der sich nicht zum Ziel setzt, Gerechtigkeit zu schaffen, wie immer sie im konkreten Fall aussieht, wäre nichts anderes als eine gemeine Räuberbande, ein "Latrocinium", wie es schon Augustinus gesagt hat.
Frage 3:
Mit dem Begriff "Brasilianisierung des Westens" meint Prof. Ulrich Beck in seinem letzten Buch "Schöne neue Arbeitswelt" einen Leitbildwechsel, und zwar der Art, dass die Flexibilisierung und Pluralisierung von Arbeit unserem Bild von Vollbeschäftigung widersprechen und stellen eine latente Revolution dar, für die wir noch keine angemessene Antwort haben. Sein Rat ist es Bürgerarbeit, d.h., einerseits aus dem Käfig der Vollbeschäftigungsgesellschaft auszubrechen, in der die Identität oder die soziale Sicherheit allein über Erwerbsarbeit begründet ist, und auf der anderen Seite zugleich auch alltäglich Demokratie mit all den genannten Herausforderungen neu zu begründen. Damit formuliert er eine Kongruenz mit der Flexibelarbeit in Länder wie Brasilien. Wie bewerten Sie seine Thesen?
Antwort:
Es gehört zu den großen Zukunftsaufgaben, die Arbeit so zu organisieren und zu gestalten, dass die Bedürfnisse der Menschen mit den Erfordernissen des Wirtschaftens in Übereinstimmung kommen. Auch in Zukunft wird Erwerbsarbeit über den Status und über das Einkommen, aber auch über das Selbstbildnis und das Selbstbewusstsein der Menschen maßgeblich entscheiden. Der Mensch lebt nicht vom Brot allein - das stimmt, aber ohne Brot kann er nicht leben. Die Arbeit dient dem Lebensunterhalt. Das gibt ihr unmittelbar einen Wert. In ihr – und das gibt ihr einen weiteren Wert - entfalten sich aber auch menschliche Fähigkeiten. Ohne sinnvolle Arbeit geht ein Stück Menschenwürde verloren.
Es mag sein, dass wir, vor allem in den entwickelten Volkswirtschaften, auf lange Sicht eine neue Einstellung zur Arbeit bekommen. Bei tendenziell sinkender Arbeitszeit könnten mehr Menschen mehr Zeit finden für aktive Nachbarschaftshilfe, für ehrenamtliches Wirken in Vereinen, aber auch für die Pflege der Städte und die Bewahrung und Förderung von Kultur und Kunst, mehr Zeit auch für eigene Arbeit. Das wäre eine Gesellschaft, die einen stärkeren inneren Zusammenhalt haben könnte, als sie ihn zur Zeit hat, eine Gesellschaft, in der Gemeinsinn und Solidarität wieder einen höheren Stellenwert hätten. Flexibilisierung und Pluralisierung von Arbeit und Arbeitzeit.
Frage 4:
Nach dem Kosovo-Krieg sollten wir einen Sprung auf dem Wege des klassischen Völkerrechts der Staaten zum kosmopolitischen Recht einer Weltbürgergesellschaft schaffen? Da die Demokratie demographisch gesehen an Gewicht verliert, angesichts der Tatsache, dass es kaum supranationale Einrichtungen gibt, die wirklich greifen, welche Alternativen sind in Sicht?
Antwort:
Die Spannung zwischen Souveränität und Gemeinschaft, die wir in Europa spüren, entwickelt sich auch auf globaler Ebene. Ist zum Beispiel die Charta der Vereinten Nationen bereits ein Handlungsrahmen der Staatengemeinschaft, den wir als Weltverfassung behandeln können? Oder welcher politische Ordnungsrahmen ist für die "Weltgesellschaft" denkbar? Diese Fragen sind noch heiß umstritten. Kofi Annan hat in seinem Bericht an die Menschenrechtskommission den Mut gehabt, auszusprechen, dass sich allmählich eine universelle Norm gegen die gewaltsame Unterdrückung von Minoritäten entwickelt, die Vorrang vor besorgtem Hüten nationaler Souveränität erhalten werde und müsse. Wenn der Generalsekretär der Vereinten Nationen so spricht, ist das ein Zeichen, dass wir Fortschritte machen. Die Vereinten Nationen müssen handlungsfähig sein. Sie dürfen sich nicht durch Berufung von Menschenrechtsverletzern auf nationale Souveränität lähmen lassen.
Das bedeutet nicht, dass wir in absehbarer Zeit auf Nationalstaaten verzichten können. Ohne einen starken Staat ist ein Schutz gegen Gewalt zwischen Menschen im Innern nicht möglich. Auch der Schutz der Menschenrechte braucht mehr als den Nachtwächterstaat.
Auch in der Wirtschafts-, Sozial-, Rechts- und Bildungspolitik gibt es weite Bereiche, in denen die Nationalstaaten sich ihrer Verantwortung stellen müssen, weil Märkte und Informationsflüsse globalisiert sind und wir uns transnationalen Sicherheitsrisiken gegenüber sehen.
Frage 5:
Zehn Jahre nach der Wiedervereinigung wird zum ersten Mal eine Weltausstellung auf deutschem Boden stattfinden. Hannover wird einen neuen Begriff der Weltausstellung entfalten. Erstmalig wird dieser Begriff der Nachhaltigkeit besonders konkret gefasst. Zwischen Rio de Janeiro und Hannover - welche Antworten auf die globalen Fragen unserer Zeit können auf der Expo 2000 gefunden werden?
Antwort:
Unter dem Leitthema „Mensch – Natur – Technik. Eine neue Welt entsteht“ werden auf der EXPO 2000 Ideen, Konzepte und Visionen für das zukünftige Zusammenleben der Menschen vorgestellt. Wir befinden uns mitten im Wandel von der Industriegesellschaft alten Typs in ein Zeitalter, das immer stärker geprägt wird von Information und Kommunikation und das gewaltige Umwälzungen mit sich bringt.
Wenn wir technische Innovation und wirtschaftliche Dynamik mit dem Willen und der Fähigkeit zur politischen Gestaltung verbinden, können wir die Chancen des Wandels dafür nutzen, eine menschenfreundlichere Gesellschaft zu schaffen.
Die EXPO 2000 ist die erste Weltausstellung auf deutschem Boden. Die Welt wird neugierig auf Deutschland schauen, was für ein Deutschland zehn Jahre nach der Wiedervereinigung im Herzen Europas entstanden ist. Für uns ist das die Gelegenheit zu zeigen, wie wir unser Land in das Zusammenleben der Völker einbringen können und welche Ideen und Lösungsvorschläge wir für die Probleme des neu beginnenden Jahrhunderts haben.
Ich würde mich freuen, wenn viele Besucher aus Brasilien den Weg zur EXPO 2000 nach Hannover finden , um sich dabei auch ein Bild von dem neuen Deutschland zu machen.
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