Tuesday, 10 January 2012
Das brasilianische Projekt - Anthropophagisches Manifest - Oswald de Andrade - ARCH+ 190 Zeitschrift für Architektur und Städtebau Dezember 2008: Stadtarchitektur São Paulo Ausblick auf ein soziales Raumkonzept
Posted on 14:25 by Unknown
Nur die Anthropophagie vereint uns. Gesellschaftlich. Wirtschaftlich. Philosophisch.
Einziges Gesetz der Welt. Maskierter Ausdruck Aller Individualismen, Aller Kollektivismen. Aller Religionen. Aller Friedensverträge.
Tupi or not Tupi, that is the question.
Gegen alle Kathechesen. Und gegen die Mutter der Gracchen.
Mich interessiert nur, was mir nicht gehört. Gesetz des Menschen. Gesetz des Antropophagen.
Wir haben alle katholischen, argwöhnischen, in Dramen versetzte Ehemänner satt. Freud hat Schluß gemacht mit dem Rätsel Frau und mit anderen Schrecknissen der gedruckten Psychologie.
Was der Wahrheit Gewalt antat, war di Kleidung der Unduchlassige zwischen innerer und außerer Welt. Die Reaktion gegen die bekleidenten Menschen. Das amerikanische kino wird berichten.
Kinder der Sonne, Mutter der Lebenden. Vorgefunden und grausam geliebt von den Eingewanderten, den Eingeschleppten und den Touristen, mit der ganzen Heuchelei von Sehnsucht. Im Land der großen Schlange.
Und zwar, weil wir niemals Grammatiken besaßen, oder Sammlungen alter Pflanzen. Und niemals wußten, was städtisch, vorstädtisch, grenznah oder kontinental war. Müßiggänger auf der Weltkarte Brasiliens. Ein teilnehmendes Bewußtsein, eine religiöse Rhythmik.
Gegen alle Importeure eingemachten Bewußtseins. Die greifbare Existenz des Lebens. Und die prä-logische Mentalität, damit Herr Lévy-Bruhl etwas zu untersuchen hat.
Wir wollen die Karibische Revolution. Größer als die Französische Revolution. Die Verneinungen aller wirklichen Revolten, die zum Menschen führen. Ohne uns hätte Europa nicht einmal seine armselige Erklärung der Menschenrechte.
Das von Amerika angekündigte Zeitalter. Das goldene Zeitalter. Und alles Girls. Herkunft. Der Kontakt mit dem Karibischen Brasilien. Oü Villegaignon print terre. Montaigne. Der natürliche Mensch. Rousseau. Von der französischen Revolution zur Romantik, zur Bolschewistischen Revolution, zur Surrealistischen Revolution und zum technisierten Barbaren Keyserlings. Wir sind auf den Weg.
Wir sind nie katechisiert worden. Wir leben dank einem schlafwandlerischen Gesetz. Wir ließen Christus in Bahia zur Welt kommen. Oder in Belém do Pará.
Doch nie haben wir die Geburt der Logik unter uns zugelassen.
Gegen den Pater Viera. Den Urheber unserer ersten Anleihe, der sich damit eine Provision verdienen wollte. Der König der Analphabeten hatte zu ihm gesagt: Bring das zu Papier, aber ohne viel Worte zu drechseln. Die Anleihe wurde gemacht. Der brasilianische Zucker wurde mit einer Steuer belastet. Vieira ließ das Geld in Portugal und brachte uns die Wortdrechselei.
Der Geist wehrt sich gegen die Vorstellung vom Geist und Körper. Der Anthropomorphismus. Die Notwendigkeit einer anthropophagischen Impfung. Für ein Gegengewicht zu den Religionen des Meridians. Und den Inquisitionen von Außen.
Wir können uns nur um die Orakelwelt kümmern.
Wir hatten die Justiz als kodifizierte Rache. Die Wissenschaft als kodifizierte Magie. Anthropophagie. Die ständigen Verwandlungen von Tabu in Totem.
Gegen die umkehrbare Welt und die objektivierten Ideen. Die kadavesierten. Den Stop des Denkens, das dynamische Ich. Das Individuum als Opfer des Systems. Quelle der klassischen Ungerechtigkeiten. Der romantischen Ungerechtigkeiten. Und das Vergessen innerer Eroberungen.
Logbücher. Logbücher. Logbücher. Logbücher. Logbücher. Logbücher. Logbücher.(1)
Der karibische Instinkt.
Tod und Leben der Hypothesen. Von der Gleichung Ich als Teil des Kosmos zum Axiom Kosmos als Teil des Ich. Fortdauer. Erkenntnis. Anthropophagie.
Gegen die Pflanzen-Eliten. Für die Nähe zum Boden.
Wir sind nie katechisiert worden. Was wir machten, war Karneval. Der Indio in den Kleidern eines Senators des Kaiserreichs. Der so tut, als wäre er Pitt. Oder in Opern von Alencar von vollglut-portugiesischer Gefühle auftritt.
Wir hatten bereits den Kommunismus. Wir hatten bereits die surrealistische Sprache. Das goldene Zeitalter.
Caititi Caititi
Imara Notiá
Notiá Imara
Ipeju
Die Magie und das Leben. Wir hatten die Auflistung und die Verteilung der materiellen Güter, der geistigen Güter, der würdespendenden Gütter. Und wir wußten, wie man das Mysterium und den Tod mit Hilfe einiger grammatischer Formen überwindet
Ich fragte einen Mann, was Recht sei. Er antwortete mir, dass es die Garantie für die Ausübung der Möglichkeit sei. Dieser Mann hieß Galli Matias. Ich habe ihn aufgegessen.
Nur dort ist kein Determinismus, wo Geheimnis ist. Aber was geht uns das an?
Gegen die Geschichte vom Menschen, die am Cap Finstere beginnt. Die nicht datierte Welt. Die nicht etikettierte. Ohne Napoleon. Ohne Cäsar.
Die Festschreibung von Fortschritt durch Kataloge und Fernsehapparate. Die Maschinerie allein. Und die Blut-Transfusoren.
Gegen die antagonistische Sublimierung. Die mit den Karavellen kamen.
Gegen die Wahrheit der missionarischen Völker, die mit dem Scharfsinn eines Antropophagen, des Visconde de Caiuru definiert wurde:- Es ist die stets wiederholte Lüge.
Doch es waren nicht Kreuzfahrer, die kamen. Es waren Flüchtlinge einer Zivilisation, die wir jetzt aufessen, denn wir sind stark und rachsüchtig wie der Jabuti.(2)
Ist Gott das Bewußtsein des ungeschaffenen Universums, so ist Guaraci (3) die Mutter der Lebenden. Jaci ist die Mutter der Vegetierenden.(4)
Wir hatten keine Spekulation. Doch wir hatten die Wahrsagung. Wir hatten Politik, die die Wissenschaft der Verteilung ist. Und ein gesellschaftlich-planetarisches System.
Die Völkerwanderungen. Die Flucht vor den langweiligen Zuständen. Gegen die städtische Sklerose. Gegen die Konservatorien und die spekulative Langeweile.
Von Willian James zu Voronnoff. Die Verwandlungen von tabu in Totem. Anthropophagie.
Der Pater familias und die Schaffung der Storchenmoral: tatsächliche Unwissenheit der Dinge + fehlende Phantasie + Gefühl von Autorität gegenüber dem neugierigen Nachwuchs.
Man muß von einem tiefen Atheismus ausgehen, um zur Vorstellung von Gott zu gelangen. Doch der Karibe brauchte das nicht. Weil er Guaraci hatte.
Das erschaffene Objekt reagiert wie die gefallenen Engel. Später schweifte Moses umher. Was geht uns das an?
Bevor die Portugiesen Brasilien entdeckten, hatte Brasilien das Glück entdeckt.
Gegen den Kerzenstock-Indio. Den Mariensohn-Indio, Patenkind der Katharina de Medici und Schwiegersohn des D. Antonio de Mariz.
Nagelprobe ist die Freude.
Im Matriarchat von Pindorama.(5)
Gegen die Erinnerung, Quelle der Gewohnheit. Die erneuerte persönliche Erfahrung.
Wir sind Konkretisten. Die Ideen geben Obacht, reagieren, verbrennen Menschen auf öffentlichen Plätzen. Laßt uns die Ideen und andere Lähmungen abschaffen. Für die Richtungen. An Zeichen glauben, an die Instrumente und an die Sterne glauben.
Gegen Goethe, die Mutter der Gracchen und den Hof von König João VI.
Heiterkeit ist die Feuerprobe.
Der Kampf zwischen dem, was man das Ungeschaffene nennen könnte,
und der Schöpfung - veranschaulicht durch den ständigen Widerspruch zwischen dem Menschen und seinem Tabu. Die alltägliche Liebe und der kapitalistische modus vivendi. Anthropophagie. Einverleibung des heiligen Feindes. Um ihn in ein Totem zu verwandeln. Das menschliche Abenteuer. Die irdische Zielsetzung. Dennoch ist es nur den reinen Eliten gelungen, die fleischliche Anthropophagie zu vollziehen, die den höchsten Lebenssinn in sich trägt und alle von Freud ausgemachten Leiden sich erspart, katechetische Leiden. Was geschieht, ist nicht eine Sublimierung des Geschlechtstriebes. Es ist die Wärmeskala des anthropophagischen Triebes. Erst fleischlich, wird er wählerisch und schafft die Freundschaft. Affektiv, schafft er die Liebe. Spekulativ, die Wissenschaft. Er weicht ab und überträgt sich. Wir kommen zu seiner Herabwürdigung. Die niedere Anthropophagie, angehäuft in den Sünden des Katechismus - Neid, Wucher, Verleumdung, Mord. Die Seuche der sogenannten gebildeten und christianisierten Völker ist es, wogegen wir vorgehen. Die Anthropophagen.
Gegen Anchieta, der die elftausend Jungfrauen des Himmels im Lande Iracemas (6) besingt der Patriarch Joao Ramalho, Gründer São Paulos. Unsere Unabhängigkeit wurde noch nicht ausgerufen. Typischer Satz Königs Joaos VI:- Mein Sohn, setzt dir die brasilianische Krone aufs Haupt, bevor es irgendein Abenteurer tut! Wir haben die Dynastie vertrieben. Man muß den Geist der Bragancas vertreiben, die Verordnungen und den Schnupftabak der Maria da Fonte.
Gegen die gesellschaftliche Wirklichkeit, angekleidet und unterdrückend, von Freud klassifiziert, ohne Komplexe, ohne Wahnsinn, ohne Prostituierenden und ohne Strafanstalten, im Matriarchat von Pindorama.
Zu Piratininga (7), im Jahr 374 der Verspeisung des Bischofs Sardinha.
Oswald de Andrade
Aus Lettre Nr. 11, 1990. Übersetzung von Maralde Meyer-Minnemann. Mitarbeit: Bertold Zilly. S. 40-41. Erschien in Revista de Antropofagia, Nr. 1, São Paulo, Mai 1928.
(1) Portugiesisch: roteiros, Anspielung auf das Logbuch des portugiesischen Entdeckers Vasco da Gama.
(2) Aus dem Tupi-Guarani abgeleitet: fauler, zugleich aber auch durchtriebener und gerissener Mensch.
(3) Männlicher Eigenname, auch Sonnengeist der Tupi.
(4) Weiblicher Eigenname, auch Mond
(5) Pindorama, Tupi-Guarani für Palmenpflanzung. So nannten die indianischen Ureinwohner ihr Land vor der Entdeckung durch die Portugiesen.
(6) Weiblicher Eigenname, bedeutet so viel wie „im Honig geboren". Wohl Anspielung auf die Protagonistin in José Martiniano de Alencars gleichnamigen Roman von 1865, der den Mythos der indianischen Ursprünglichkeit stilisiert Alle späteren Spielarten der literarisierten brasilidade - Regionalismus, Menschenfresserkult, Mythisierung des Sertão - erweisen sich als Funktion dieser Sehnsucht nach einem fiktiven Ursprung.
(7) Piratininga war die Bezeichnung der Tupi-Guarani für die heutige Metropole São Paulo und ist abgeleitet von pirátininga, trockener Fisch.
Erschienen am 03.12.2008 S. 30-31.
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