Thursday, 24 May 2012
Interview mit dem Bundespräsidenten a. D. Dr. Richard von Weizsäcker fuer "Republica" (Brasilien)
Posted on 16:29 by Unknown
Interview mit dem Bundespräsidenten a. D. Dr. Richard von Weizsäcker
„Und wenn die Welt voll Teufel wär, und wollte uns verschlingen, so fürchten wir uns nimmermehr, es soll uns doch gelingen“, hat Luther einmal behauptet. In der Zwischenzeit gehört die Welt ganz und gar dem Kapital, und wo wir auch hinschauen, sehen wir nur die abstrakten Gesetze des Marktes am Werk. Für den britischen Ökonom John Gray ist der gegenwärtige Kapitalismus fast zu einer amerikanischen "zivilen Weltreligion" geworden. Historiker wie der Amerikaner Luttwak wiederum nennen dieses Entwicklungsstadium der Kräfte des freien Marktes "Turbokapitalismus". Der "Faust II" zeigt uns einen Mega-Unternehmer, fast einen "Fusionierer", der an den Börsen der Welt die Vermischung von Realem und Irrealem betreibt, und zwar innerhalb eines Projekts, das ironischer Weise mit der Finanzreform eines kleinen Staates beginnt, bis es sich am Ende zu einer Form des Imperialismus moderner Subjektivität im Welttheater auswächst. Wenn nun der Kapitalismus eine zivile Religion ist, wem gebührt dann heute oder wem sollte heute das Privileg der Gnade gebühren? Denn alles deutet darauf hin, daß dieses Spiel aus logischer Sicht alle seine Teilnehmer ausschließt und daß es schon im voraus entschieden ist, wie bei der berühmten Wette mit dem Teufel.
Richard von Weizsäcker - Was Sie mir hier unterbreiten, ist keine Frage, sondern eine Deutung der Welt mit scharfen klaren Akzenten, die ich inte¬ressant finde, aber nicht alle teilen kann und auch in meiner Antwort nicht durchweg zu berücksichtigen in der Lage ist. Ich finde z. B. nicht, daß man sagen kann, die Welt gehöre ganz und gar dem Kapital, die Welt ist mehr, was wirtschaftlich unter die Gesetze des Kapitals fällt. Umso sicherer auch auf dem Weg, sich gegen eine Alleinherrschaft des Kapitals zur Wehr zu setzen. Der Versuch, aus einer Wirtschaftsform eine die Menschen erfüllende Religion zu machen, wird mit Sicherheit scheitern. Ich glaube auch nicht, daß es ganz zutrifft, den Begriff der zivilen Religion zu verwenden.
Mein Problem dem Amerikaner gegenüber ist nicht, daß sie alleine nur sich einem Turbokapitalismus verschrieben haben. Meine Schwierigkeit ist mehr die, daß sie zwar wertvolle, wichtige, notwendige Ziele für das friedliche Zusammenleben der Menschen verfolgten, nämlich Demokratie und Achtung der Menschenrechte, und Achtung der Minderheit, daß sie zugleich aber sich selber als die Weltmissionare in Bezug auf diese Ziele verstehen, mit der großen Macht, die sie haben, diese Missionaraufgabe verbinden und dabei zugleich natürlich auch eigene ganz praktische und konkrete und auch materielle Interessen verbinden, aber nicht, daß sie eine zivile Religion da entstellen, als vom Kapitalismus übernommen, verkündet und in der Welt missioniert hat, finde ich nicht so toll. Die Gnade ist überhaupt kein Privileg. Sie haben den „Luther“ angebracht. Und die zentrale Aussage von Luther ist, die Rechtfertigung allein aus Gnade, nämlich die Rechtfertigung des Menschen, der eben wie Luther ist, allein durch die Gnade Gottes. Die Gnade Gottes ist dadurch definiert, dass sie kein Privileg ist, sondern daß der Mensch darauf, ob er ihrer teilhaftig wird oder nicht, damit einverstanden ist.
Wir befinden uns in einem Übergangsstadium, bei dem die Unaufhaltsamkeit der ökologischen Auswirkungen ebenso wie die faktische Durchschlagenskraft der ökonomischen Prinzipien des Kapitals rings um die Welt grenzenlos rotieren und uns damit einer Globalisierung aussetzen, die noch immer ohne rechtlichen und moralischen Rahmen ist. Daß aber diese Entwicklung notwendig wird, eine Suche nach einem rechtlichen Rahmen und einer moralischen Basis einschließt, davon bin ich überzeugt, wir haben sie nur noch nicht erreicht, deswegen dürfen und können wir aber nicht mit einer Kapitulationserklärung beginnen und sagen, „Turbokapital ist die zivile Religion“ und die Mehrheit der Menschheit ist auf diese Weise ausgeschlossen und zum Untergang verurteilt. Das wird sich die Mehrheit der Menschheit nicht gefallen lassen.
Aber die Bewegungen dieser Fusionen materialisieren nur die zentrifugale Dynamik des spekulativen Kapitals und werden von der Politik, oder von dem was sie noch zu regulieren glaubt, kaum berührt. Wäre es vielleicht doch nicht sehr naiv, wie die gegenwärtigen Politiker des Dritten Weges zu glauben, es sei im Prinzip wenigstens möglich, die soziale Marktwirtschaft mit den unerbittlichen Spielregeln des neuen Wettbewerbs zu verbinden. Wie sehen Sie die Rhetorik des Dritten Weges, gerade auch mit Ihrem Erfahrungshintergrund als Unternehmer, bevor Sie 1969 in die Politik gingen?
Richard von Weizsäcker - Zu den Grundproblemen jeder parlamentarischen Parteiendemokratie gehört es, daß man auf der einen Seite um die Mehrheiten, also um die Macht kämpft, auf der anderen Seite aber der Lösung der Probleme dienen soll. Unter diesen zwei Zielen kommt oft, leider allzu oft, das zweite unter die Räder. Dann werden die Probleme instrumentalisiert, um das erste Ziel, das den Parteien wichtigste Ziel zu erreichen, nämlich die Macht. Wer den Dritten Weg postuliert, weil er von der Analyse ausgeht, daß die Mehrheit der Wähler in der Mitte anzutreffen ist, versorgt sie gar nicht mit einem Konzept und Inhalt und ist infolge dessen in Bezug auf die Lösung oberflächlich.
Auf der anderen Seite ist für Länder wie das meinige, natürlich eines nicht zu leugnen: Auf der einen Seite gehört es zu unseren Interessen, in einer weltweit grenzenlosen Gesellschaft wettbewerbsfähig zu sein. Auf der anderen Seite gehört es zu den zentralen Aufgaben einer Regierung, den sozialen Zusammenhalt in einer Gesellschaft zu erhalten oder herzustellen,
wenn er verloren geht. Diese zwei Ziele in Einklang miteinander zu bringen, ist die große und außerordentlich schwere Aufgabe in der Gegenwart. Es hat keinen Sinn um des sozialen Zusammenhalts willen den Wettbewerb zu vernachlässigen, denn zum sozialen Zusammenhalt gehört auch die materielle Leistungsfähigkeit und zu dieser materiellen Leistungsfähigkeit gelangt man nicht, wenn man sich am Wettbewerb nicht beteiligt. Aber es hat auf der anderen Seite natürlich auch keinen Sinn, den Wettbewerb zu heiligen, ihn zum alleinigen Maßstab aller politischen Entscheidungen zu machen und diejenigen, die im Wettbewerb nicht mithalten können, als die zwar zu Bedauernden, aber leider nicht zu berücksichtigenden sozialen Opfer dieses Systems zu stempeln. Das geht genauso wenig.
Das ist ein klassisches Spannungsverhältnis, wie es sich in der Politik immer wieder ergibt und wie man damit fertig wird - ich will jetzt hier keinen Entwurf eines Lehrbuchs für soziale Wirtschaftspolitik in einer kurzen Antwort entwerfen – aber das Wichtige ist, das in Bezug auf die Konzepte und nicht in Bezug auf die Mehrheitsnähe über die Inhalt des „Dritten Weges“ diskutiert wird, und da gibt es eben gute und schlechte Beispiele dafür.
In diesem Zusammenhang haben Sie gelegentlich über die Aporien eines sogenannten Ungleichgewichts zwischen den Polen der „Machtversessenheit“ und „Machtvegessenheit“ des Parteisystems angesprochen. Parteien kämpfen um Macht und Mehrheit. Tun sie nicht dies, dann seien sie überhaupt nicht Parteien. Erreichen sie die Macht, dann vergessen sie wozu sie die Macht errungen haben oder legitimieren sie nicht diese Macht in notwendigen Entscheidungen des Mandaten der Wähler. Die Stabilität des Milieus der Parteien in Deutschland scheint längst Vergangenheit zu sein. Ihre sozialen Ressourcen sind versiegt, ihre Grundlagen und gesellschaftlicher Halt verloren. Wohin steuert eigentlich dieses System?
Richard von Weizsäcker - Also ich glaube nicht, dass die Lage in Deutschland so grundlegend anders ist, als in anderen mir bekannten ebenfalls europäischen Demokratien, dass man dieses von mir gerügte Problem der Machtversessenheit und Machtvergessenheit nur auf die Deutschen beziehen kann. Ich will noch einmal sagen, richtig ist, die Parteien sind machtversessen. Sie wollen die Mehrheit und das ist ihnen in dem Moment, wo sie gegeneinander um die Mehrheit kämpfen, wichtiger als alles.
Und wenn dann eine Partei, ein Parteilager, die Macht errungen hat in einer Wahl, dann sind sie immer wieder in der Gefahr, die Aufgabe nicht genügend mutig wahrzunehmen, welche darin besteht, voranzugehen und nicht hinterherzulaufen. Sie brauchen ja nur – ich weiß nicht, wie weit sie die deutsche Innenpolitik zur Zeit verfolgen – zur Zeit können Sie, seit ein paar ein paar Wochen oder Monaten, jeden Tag, immerfort überall darüber lesen, ob wir nun eine Rentenreform oder eine Steuerreform rechnen können. Beide Fragen sind sehr wichtig. Vor allem die Rentenreform ist von ganz außerordentlicher Wichtigkeit dafür, dass junge Leute, wie unser Freund hier auch in der Lage ist, das nötige zu bezahlen, dass seine Großeltern und Eltern ihre Rente bekommen, ohne dass er selber rentenlose oder zu schwach berentet dasteht, wenn er mal in den Ruhestand tritt in einigen Jahren.
Das ist eine außerordentlich wichtige Frage. Gedacht wird aber nach wie vor vielmehr an die Wirkung bei der nächsten Landtagswahl, aber nicht an die Wirkung in 30 oder 50 Jahren, wenn es für ihn so weit ist. Das ist das, was ich unter Machtvergessenheit verstehe. Zur Ausübung der Macht gehört der Mut zu langfristigen Konzeptlösungen und
Reformen. Darf ich mal sagen, einer der Hauptkritikpunkte ist, dass die Rentenpolitiker Blüm und Dressler, die vorher 10 oder 20 Jahre oder viel Jahre die Verantwortung für diese Sache in diesen beiden großen Parteien hatten, unaufhörlich sich und der Bevölkerung blauen Dunst vorgemacht und behauptet haben, die Rentenversicherung sei finanzierbar und Wissenstand. Und der Herr Riester ist der erste, der in einer verantwortlichen amtlichen Stellung dazu auffordert, sich dieser Analyse bewußt zu werden und daraus die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Und jetzt stößt er wieder auf Schwierigkeiten in dem Dressler-Klüngel in seiner Partei und in dem Blüm-Flügel bei der Opposition, und nun wird sich zeigen, was rauskommt.
Heute können Sie mal ausnahmsweise die Bild-Zeitung lesen. Da steht ein kleiner Leitartikel zu dieser Frage, und ich will hier wirklich nicht die Bild-Zeitung propagieren, aber das ist das, was ich unter Machtvergessenheit verstehe und nur selbstverständlich ist die britische und die französische und die italienische demokratische Klasse von diesen Gefahren nicht frei. Und infolgedessen muss es halt immer wieder moniert, kritisiert und beim Namen genannt werden, so dass man noch ganz gut über die nächsten Runden kommt und schließlich wird man sich immer wieder daran erinnern, dass alle anderen Systeme noch schlechter sind, als wir.
Am 3. Oktober 1990 haben Sie die Deutsche Einheit in der Europäischen Union verkündet. Zehn Jahre später sehen wir, daß die Betonung des nationalen Interesses immer noch dominiert und Brüssel als eine sehr entfernte Instanz im Selbstbewußtsein des Durchschnittsbürgers erscheint. Mit dem Kanzler Schröder haben sich die nationalen Interessen nur immer offensichtlicher in der Union manifestiert, und die fatale Präsenz dieses deutschen Übergewichts hat bei vielen Nachbarn eine chauvinistische Rhetorik als Reaktion hervorgerufen. Wie sehen sie die Europäische Union zehn Jahre nach Maastricht hinsichtlich dieser Balance noch divergierender nationaler Interessen so kurz vor dem Euro?
Richard von Weizsäcker - Europa befindet sich zum ersten Mal in seiner gesamten Geschichte vor der Chance, sich zu vereinigen. Was das heißt, ist gedanklich schwer zu formulieren und wenn überhaupt, dann nur im Lauf mehrerer Generationen zu verwirklichen. Es gibt weder in der europäischen noch in irgendeiner anderen Geschichte eines anderen Kontinents ein Muster dafür, wie sich Nationen bis hin in eine gemeinsame Verfassung hinein vereinigen können und zugleich dafür das Verständnis und die Zustimmung ihrer eigenen Bürger zu gewinnen. Wir befinden uns mitten in diesem Prozeß.
Zur Zeit schreiten wir, gerade übrigens in den letzten zwei, drei Monaten, wie ich finde, auf einem interessanten Weg in die Zukunft. Nämlich, auf der einen Seite ist ein Verzicht auf die Nation weder politisch durchsetzbar noch historisch klug. Es gibt keine europäische Sprache, es gibt kein europäisches Volk, es gibt zwar gemeinsame europäische kulturelle Würze, auch gibt es gemeinsame europäische Interessen, aber das was eine Nation ausmacht, nämlich das Bewußtsein einer gemeinsamen Vergangenheit und den Willen zu einer gemeinsamen Zukunft. Das können Sie europäisch nicht formulieren. Deswegen wird eine neue Aufteilung der Befugnisse angesteuert. Befugnisse in mindestens drei verschiedenen Etagen, in der europäischen, der nationalen und der regionalen, und wenn Sie wollen, auch noch in der kommunalen.
Wenn man zu keiner vernünftigem Einverständnis in Bezug auf die Aufteilung kommt, dann werden weder die Engländer, noch die Franzosen, noch die Portugiesen, noch die Dänen, noch die Deutschen noch irgendein anderes europäisches Land mit marschieren. Man muß die Menschen doch davon überzeugen können, dass es
im Interesse von ihnen und
ihren Kindern und Enkeln ist, was wir hier machen. Die Vorstellung, dass mit dem Kanzler Schröder die nationalen Interessen immer offensichtlicher werden, das halte ich einfach für falsch. Schröder hat den Mund weniger voll genommen, als sein Vorgänger. Er ist in Bezug auf schwierige Fortschritte zum europäischen Zusammenwachsen nüchterner, ich würde sagen auch realistischer, in seinen Ausdrücken geworden, z. B. auch in Bezug auf die Frage „Wann Polen Mitglied der europäischen Union werden wird“. Die Polen haben inzwischen längst verstanden, dass Schröder keineswegs gegen ihren Beitritt ist, sie haben aber auch verstanden, dass er ihnen weder Bedingungen noch Zeitpunkte zusagen will, von denen er weiß, dass er sie nicht einhalten kann.
Die Aufgabe der historisch und politisch ganz außerordentlich schwierigen Aufteilung zwischen nationalen und europäischen Befugnissen, das Kernthema der Initiativen, die der deutsche Außenminister jetzt vor 6 oder 8 Wochen, wir befinden uns zusammen mit den Franzosen, aber nicht nur mit ihnen, auf dem Weg eines nicht riesengroßen, aber wichtigen Fortschritt in Richtung auf die europäische Vereinigung. Was in Ihrer Frage hier enthalten ist, war die vielleicht verständliche, aber nicht wirklich durchdachte und erprobte Reaktion auf die ersten Monate einer neuen Regierung. Und was Sie hier über die fatale Präsenz eines deutschen Übergewichts sagen, dass wir 80 Millionen Menschen in unserer Nation umfassen, können wir weder einen bösen politischen Willen noch das Fatum in Anspruch nehmen, sondern das ist eine Realität, die uns auf der einen Seite Veranlassung gibt, den europäischen Motor am Laufen zu halten und auf der anderen Seite mit der nötigen Rücksichtnahme auf kleinere Länder aufzutreten. Das gelingt uns manchmal schlecht und manchmal gut, aber von einer fatalen Präsenz eines deutschen Übergewichts zu sprechen, halte ich einfach für nicht gerecht.
Hölderlin hat einst die Vorrede des Hyperion "der Liebe der Deutschen" gewidmet. Was bedeutet es heute Deutscher zu sein, und wer darf sich rechtmäßig Deutscher nennen?
Richard von Weizsäcker - Hölderlin gehört einer Zeit an, in der es keine politische deutsche Nation war, in der aber insbesondere die Literatur und auch andere Zweige der Kultur in Deutschland das Bedürfnis hatten, eine deutsche Kulturnation zum Ausdruck zu bringen. Es begann übrigens mit Lessing, der ein deutsches Nationaltheater gründen wollte, um sich gegen die Übermacht oder Alleinherrschaft der französischen Sprache an den königlichen Hoftheatern in Deutschland zur Wehr zu setzen.
Man wollte an den deutschen Nationaltheatern die deutsche Sprache berücksichtigt haben, und Hölderlin, Jean Paul und wenn Sie so wollen, Schiller und Goethe haben eben das geschaffen, was wir die deutsche Kulturnation nennen, lange bevor es eine politische deutsche Nation gab. In diesem Sinn konnten die Dichter und konnte auch Hölderlin von einer Liebe der Deutschen zu ihrer Kultur, zu ihrer geistigen Wurzel sprechen. Das war ja gar keine Äußerung, so wie man heute und so wie auch Sie in Ihrer Frage diese Begriffe benutzen.
Damals gab es ja keinen Nationalstaat. Das ist ja gerade der Witz der Sache. Während wir heute in einem Nationalstaat leben, der nun gerade im Falle der Deutschen, ganz im Gegensatz zu fast allen unseren Partnern in Europa ein Föderalstaat ist, die föderalen Glieder so weit gehen, zu sagen, es gäbe überhaupt keine nationale
Kultur, was ich nun wiederum meinerseits für ausgemachten Blödsinn halte, denn Immanuel Kant ist ja nicht ein ostpreußischer Denker und Richard Wagner ist kein herumfahrender Sachse und Richard Strauß darf man auch außerhalb von München spielen und Thomas Mann und Bert Brecht und alle diese Leute gehören zur Überlieferung der deutschen Kultur. Auch obwohl die von mir jetzt genannten Beispiele, also nicht gerade Kant, aber die anderen, alle aus einer Zeit stammen, in der es auch schon einen politischen deutschen Nationalstaat gegeben hat. Ich finde gar nicht, dass wir genötigt sind, uns von der Vorstellung einer deutschen Kultur zu verabschieden. Nur hat man zu einem Zeitpunkt, als eine politische Nation geschaffen wurde, gelegentlich die überlieferte Kultur mißbraucht, in dem man dann plötzlich angefangen hat von dem Volk der Dichter und Denker zu sprechen, die ihrerseits die Welt beglücken soll, was natürlich Unsinn ist.
Das ist eine Säge an die eigentlichen geistigen und moralischen Wurzeln dieser Kultur, wenn sie in dieser Weise mißbraucht wird. Aber insoweit ist der Bezug auf Hölderlin im Zusammenhang mit einer Frage, wer oder was eigentlich heute die Deutschen lieben darf und sich dazu zählen darf, ganz außerordentlich mißverständlich, wenn wir heute davon sprechen, was sich Deutscher nennen darf, dann sind wir mitten in der Materie eines Einwanderungsgesetzes oder einer Reform unserer Staatsbürgerschaftsregeln usw. Wir leben heute in einer Zeit, in der die Grenzen offen sind, in der Migrationen im Gang sind, die es früher nicht gegeben hat. Unser Staatsbürgerschaftsrecht stammt aus einer Zeit des Nationalismus, wo man also die eigene Nation verstand, sie stammt aus dem Jahr 1913. Das stammt aus einer Zeit, wo die eigene Nation sich verstanden hat als eine Bastion gegen die andere.
Also wurde das Staatsbürgerschaft so restriktiv wie möglich gefaßt. Das ist ein unsinniges Modell für das, was die Gegenwart uns nahe legt und was wir in der Gegenwart lernen müssen. Heute müssen wir lernen, miteinander zu leben gerade im Lichte der Tatsache, dass wir unterschiedliche Religionen und Auffassungen und Traditionen und Kulturen und Hautfarben und Rässe haben und auf diesem Gebiet stellt sich die Frage, wer sich als Deutscher fühlen oder nennen darf, so vollständig anders, wie zur Zeit von Hölderlin.
Die Vorschläge der Komission, die auf Antrag des Verteidigungsministers Rudolf Scharping gebildet wurde und deren Vorsitzender Sie ein Jahr lang waren, laufen praktisch auf das Ende der allgemeinen Wehrpflicht hinaus, mit der drastischen Reduzierung der Bundeswehr auf 30.000 Soldaten, im Rahmen des Modells der amerikanischen Armee. Durch diese Modernisierung wird sich schließlich Deutschland und die Europäische Union von der amerikanischen Obhut auf dem Kontinent emanzipieren können, denn sie wird ein schnelleres militärisches Handeln im Interesse der Union ermöglichen. Wie haben Sie diese Debatte begeleitet, die mit einem Tabu bricht, das seit der Wiedereinführung der Wehrpflicht unter Adenauer besteht, und welches sind die Perspektiven dieser neuen deutschen Bundeswehr in der Europäischen Union?
Richard von Weizsäcker - Also: Erstens sind Tabus von Übel, wenn sie zu einem Denkverbot ausarten? Haben wir sie wirklich nicht abzuschaffen, vorgeschlagen, sondern gesagt, sie soll aufrecht erhalten bleiben, aber nur in dem flexiblen Umfang angewandt werden, der es gegenüber einem jungen Mann rechtfertigt, zu sagen, dass er wird gebraucht wird aus sicherheitpolitischen Gründen. Unsere sicherheitspolitische Lage hat sich seit dem Ende des kalten Krieges natürlich einigermaßen fundamental verändert. Wir sind von lauter Bündnispartnern, von sicherheitspolitischen Freunden umgeben, wir haben Streitkräfte, in denen es zu viel Personal gibt, das in diesem Umfang nicht gebraucht wird, dafür aber lauter Material, was dringend der Modernisierung bedarf. Die etwas polemische Form, dies auszudrücken, heißt, dass unsere Soldaten gelegentlich jünger sind als die Waffen.
Das also was gemacht werden muss, ist eine Modernisierung und infolgedessen eine Umverlagerung der prozentualen Kosten. Das, worauf wir achten müssen, ist, den Ausbruch von Konflikten auf unserem Kontinent nach Möglichkeit zu verhindern, oder, wenn es doch zum Konfliktausbruch gekommen ist, ihn zu beenden. Im Zeichen der modernen Bewaffnung sprechen wir also von „rapid task forces“, für die die deutschen Streitkräfte zur Zeit nicht eingeteilt sind. Im Prinzip besteht darüber auch gar keine Meinungsverschiedenheit. Jetzt haben Sie die Auswirkungen auf das Atlantische Bündnisverhältnis angesprochen. Da gibt es in der Tat Meinungsverschiedenheiten. Das liegt übrigens nicht zuletzt daran, dass die Amerikaner selber nicht so ganz genau wissen, was sie eigentlich wollen. Auf der einen Seite haben sie uns seit 1960, seit John F. Kennedy, immer gelehrt, wir sollten endlich eine eigene europäische Säule errichten, auf der anderen Seite haben sie uns dann immer vorgeworfen, wir würden in Richtung auf eine solche europäische Säule nur Worte sprechen aber keine Taten folgen lassen und wenn wir dann anfangen, Taten folgen zu lassen, dann ist nicht ganz klar, ob die Amerikaner nicht plötzlich das Gefühl haben, sie würden auf diese Weise die Dominanz über Europa auf diese Weise einbüßen.
Meine eigene Meinung ist ganz eindeutig. Das atlantische Bündnis werden wir auch in der Zukunft brauchen. Es wird dann und nur dann eine gesunde Zukunft haben, wenn die Europäer eine eigene und sicherheitspolitische Substanz und Identität schaffen. Sonst werden wir immer wieder in die Schwierigkeiten hineingeraten, die wir zuletzt im Kosovo erlebt haben, nämlich dass die Amerikaner, die im Grunde genommen gar nicht wollen, dass sie nun immerfort für Stabilität und Frieden auf dem europäischen Kontinent sorgen sollen, dann ihrerseits in ihrer Form die Alleinführung übernehmen, die die Europäer zu entlasten scheint, von der Aufgabe selber für Stabilität und Frieden auf ihrem Kontinent zu sorgen.
Also hier ist ein Spannungsverhältnis vorhanden und das muss auch durchgestanden werden, aber ich sage noch einmal, das Atlantische Bündnis soll und wird erhalten bleiben, nur dazu ist es notwendig, dass die Europäer hier z. B. eine eigene sicherheitspolitische Substanz den Worten Taten folgen lassen. Deswegen haben wir im Bericht meiner Kommission von europäischen Imperativen gesprochen.
Im Zentrum Ihres politischen Lebens steht die sogenannte Rede. Die besondere Eindringlichkeit dieser Rede ergibt sich aus der widersprüchlichen Mischung von zwei Genres. Sie ist weltliche Beichte und Predigt zugleich. Beichte ist sie, weil hier einer, wenn auch im Namen des Kollektivs, Schuld in einer Weise einbekennt, als würden Sie (oder besser das repräsentierte Kollektiv) überhaupt zum ersten Mal in dieser Rückhaltlosigkeit davon sprechen. Und sie ist zugleich auch Predigt, weil hier einer Ihr dem politischen Tagesstreit enthobenes Amt, die Feierlichkeit des Anlasses und die Besonderheit des Ortes konsequent dazu nutzt, um der Gemeinde Wahrheiten zu sagen. Nur sind es - und da hat die Analogie dann ihre Grenzen - keine alten Wahrheiten, die nur noch rituell beschworen werden.
Die Wahrheiten aber, die Sie verkündigt haben, haben selbst eine häretische Qualität. Alles, was Sie mit der Definitionsgewalt Ihres Amtes apodiktisch feststellt, war sowohl im Bewußtsein der Bevölkerung als auch in dem vieler der anwesenden Parlamentarier umstritten. Die the-senhaften Eckpunkte Ihrer Rede richten sich frontal in der Tat gegen jene Deutungsmuster, mit denen Sich die konservativen Eliten der Republik seit vierzig Jahren ihre Schuldgefühle vom Leibe zu halten versuchten. So sagten Sie gegen jene, die die deutschen Menschheitsverbrechen in existentialistischer Metaphorik als anonymes „Verhängnis“ oder als „europäischen“ Bürgerkrieg erklären wol¬len: „Aber wir dürfen nicht im Ende des Krieges die Ursache für Flucht, Vertreibung und Unfreiheit sehen. Sie liegt vielmehr in seinem Anfang und im Beginn jener Gewaltherrschaft, die zum Kriege führte“. Könnten Sie vielleicht diesen Kontext der Rede für uns noch einmal zusammenfassen.
Richard von Weizsäcker - Es ist eine Analyse einer Ansprache, die ich am 8. Mai 1985 gehalten habe, wie ich sie in dieser Form noch nie gehört habe. Also, Schuld ist die Unschuld persönlich und nicht kollektiv, das habe ich in der Ansprache auch gesagt. Ein Bewußtsein von dem Gang der Geschichte und von der Schuld, die sich in dieser Geschichte gezeigt hat, halte ich nicht nur aus historisch-moralischen Gründen für notwendig, sondern es ist auch ein Gebot gegenwärtiger politischer Verantwortung. Warum haben sich denn auf der einen Seite alle unsere neuen Nachbarn gemeinsam mit uns gefreut, als die Berliner Mauer geöffnet wird, um anschließend voller Sorgen darauf zu reagieren, dass Deutschland sich staatlich wieder vereinigen würde. Warum haben sie das getan? Weil sie ein geschichtliches Erinnerungsvermögen haben, was früher da schon alles passiert ist. Es ist ein Gebot politischer Klugheit und Verantwortung, sich dessen als deutscher Politiker auch bewußt zu sein.
Also, diese Erinnerung an die Geschichte mit ihrer Schuld ist auch bei denjenigen Generationen notwendig, die selbstverständlich vollkommen frei von Schuld an dieser Vergangenheit sind, die aber der Verantwortung für die Folgen dieser damaligen Kapitel nicht entgehen können. Darüber habe ich gesprochen. Es widerspricht meiner Vorstellung dessen, dass ein gewählter Politiker, Parlamentarier oder Inhaber eines Verfassungsorganes, wie ich es damals war, als Prediger auftritt, das widerspricht meinem politischen Verständnis, in Wirklichkeit aber auch meinem religiösen Verständnis. Sie verwenden den Begriff des Predigers in einer sekularisierten Form, die mir nicht liegt .....
Wenn Sie davon sprechen, daß die Wahrheit, die ich verkündet habe, eine häretische Qualität hat, dann stempeln Sie damit die ganze Gesellschaft zu einer quasi Kirche, die ihrerseits blind für die Wahrheit ist. Sehen Sie mal, ich habe natürlich, ich bin mir ja dessen bewußt gewesen, dass diese Rede für viele schwer zu akzeptieren war. Aber erstens Mal muß ich doch in aller Fairness für meine Vorgänge sagen, ich bin doch nicht der erste, der darüber gesprochen hat.
Es war nur ein historisch wichtiger Moment, es war ein wichtiger Zeitpunkt, zu dem Gorbatschow gerade in der Sowjetunion gerade an die Macht gekommen war und zu dem es sich immer deutlicher abzeichnete, dass nun die Deutschen nicht weiterhin nur als zwei Teilstaaten sozusagen Mitläufer in ihrem Bündnis in unselbständigem Bezug auf ihre geschichtliche Vergangenheit und politische Zukunft sein würden, sondern wo sie nun wirklich selber bekennen, selber handeln mußten und folgedessen auch zum Bekenntnis ihrer Herkunft klare Worte beherzigen sollten. Dass das Ende des zweiten Weltkrieges ein schrecklicher Verlust und nicht nur das Ende, sondern auch der Beginn schweren menschlichen Leids gewesen ist, ändert nichts daran, dass es die Befreiung von der Diktatur war, die uns in Unrecht, Verbrechen und Unglück geführt hat.
Und diese Befreiung ist es, die uns alle betrifft unabhängig davon, welches persönliche Schicksal jeder nach dem Ende des Kriege hatte. Um das deutlich beim Namen zu nennen, habe ich getan, das anzuhören ist schwergefallen.
Ihr Freund Axel von Busche hatte sich Stauffenberg für ein Selbstmord-Attentat auf den Führer zur Verfügung gestellt. Sie selbst haben Ihren Eid als Soldat gebrochen, als Sie in Solidarität mit Ihrer Kompanie auf das Portrait des Führers schossen. Wie läßt sich diese Tragödie des Befehlsgehorsams der Generalität erklären und wie läßt sie sich verbinden mit dem spontanen zivilen Widerstand vieler einfacher Bürger und dem Beispiel der Weißen Rose?
Richard von Weizsäcker - Ich war vier Wochen vor dem 20. Juli 1944 zu Besuch bei meinem eigenen älteren Bruder und einem Freund. Ich hatte nun gehört, dass das Attentat des 20. Juli bald stattfinden müsse, nicht das genaue Datum. Sie haben gesagt, das ginge nicht, denn dann würde wieder, das würde nur zu einer neuen, wie man das im 1. Krieg sagte, „Dolchstoßlegende“ führen. Und dann habe ich immer gesagt, das ist mir egal mit dem Dolchstoß, wenn man sieht, wie viel Leben jeden Tag verloren geht und man hat die Möglichkeit, dieses tägliche Morden zu beenden, dann ist es doch nicht so furchtbar wichtig, ob man vor der eigenen Bevölkerung als ein Held oder als ein Verräter dasteht. Ist doch viel wichtiger, das zu beenden. Und wenn man sich klar macht, dass zwischen dem 20. Juli 1944 und dem Ende des Krieges mehr Menschen das Leben verloren haben als in der ganzen Zeit bis dahin, und das haben wir eben nicht geschafft und das ist unser Verschulden.
Ihr Amt hatte die Aura einer gewissen Machtlosigkeit. Was kann ein Intellektueller an der Macht faktisch bewirken. Wie sehen sie diese Allianz? In den Stück "Gundling" von Heiner Müller, das Sie schätzen, bezieht sich Friedrich auf Voltaire, indem den Vergleich mit einer Orange anführt, die in der Hand des Monarchen zerquetscht werden könnte.
Richard von Weizsäcker - Die Art und Weise, wie Friedrich II. den „Gundling“ behandelt hat, ist menschlich unerträglich. Die Rolle, die Gundling spielt, ist beklagenswert. Sie können für mein Gefühl, wenn das Heiner Müller gemeint hat, nur deutlich widersprechen. Sie können wirklich nicht die Rolle der Intellektuellen in unserer Demokratie mit der Rolle Gundlings unter der absolutistischen Herrschaft vergleichen. Wenn es so wäre, dann wären die Intellektuellen selber dran schuld. Deswegen ist, dass die Intellektuellen sich bei uns immerfort viel zu sehr aus den Auseinandersetzungen heraus halten. Die Intellektuellen haben bei uns in Deutschland eine viel zu geringe Rolle. Sie haben in Frankreich eine größere Rolle und sie haben in mehr als einem lateinamerikanischen Land eine größere Rolle als bei uns. Das habe ich oft beklagt und das liegt nicht an den politischen Herrschern, sondern das liegt auch an den Intellektuellen selber.
Es hängt doch davon ab, welche großen Aufgaben eine geschichtliche Zeitepoche stellt. Zu den schwierigsten Aufgaben unserer Zeit gehört trotz aller Bedeutung, die ich also dem Mut zur Rentenreform usw. zumesse, die allgemeine Orientierung für den Menschen. Als ich jung war, waren die Probleme, die zu lösen waren, sehr einfach zu erkennen. Wir haben sie zum großen Teil nicht gelöst, das ist uns vorzuwerfen. Aber in der Frage Freiheit oder Unfreiheit, in der Frage Diktatur oder Demokratie oder in der Frage Überlebenkönnen in einem Zustand der Not ist es relativ einfach, klar zu erkennen, was der eigentliche Sinn der eigenen Existenz heute und morgen und übermorgen ist.
In einer Zeit, in der aber ich rede ja jetzt von unserem Land und nicht von Ihrem, in dem nicht auf den Höfen unserer Häuser, wie noch in meiner Jugend, um Brot gebettelt und gesungen wurde und wo zugleich eine technische und wissenschaftliche Revolution im Gange ist, die eben die eigene ethische und auch seelische und auch sinnverfüllende Wegweisung so schwer macht, in einer solchen Zeit ist es viel wichtiger zu wissen, welche Fragen hier gestellt werden müssen oder auch Angebote für die Antwort auf Fragen zu geben als die Machtkompetenz über die Mehrheit in einer gesetzgeberischen Körperschaft. Das Problem für den Bundespräsidenten bei uns ist nicht, dass er nicht zu wenig formale Befugnisse hat, sondern das Problem tritt dann auf, wenn er nicht weiß, was für Fragen zu stellen sind oder wenn er keine Antwort weiß.
Berlin, das die Hauptstadt der künstlerischen Avantgarde in den 20er und 30er Jahren gewesen war, erobert seine Rolle als dynamischer Brennpunkt im Zentrum Europas. Sie waren schon Bürgermeister dieser Stadt und hatten immer eine sehr enge Beziehung zu Künstlern der Avantgarde. In den 70er und 80er Jahren war die Bundesrepublik der größte staatliche Mäzen in Europa. Ich möchte hier, ohne andere dabei zurücksetzen zu wollen, nur zwei Namen nennen, Joseph Beuys und Heiner Müller, der eine aus der ehemaligen Bundesrepublik, der andere aus der ehemaligen DDR. Müller war ein Künstler des zerrissenen deutschen Bewusstseins und Beuys versuchte mehr als jeder andere die Ästhetik auch auf die Politik auszudehnen, indem er verkündete, wir alle seien Künstler Heute hat sich das Bild gewandelt. Wie läßt sich die Tradition staatlicher Kunstförderung mit diesem neuen Markt für Kultur verbinden?
Richard von Weizsäcker - Ich habe gerade eine Rede zur Eröffnung der Opernfestspiele in München gemacht unter dem Stichwort „Kultur zwischen Politik und Markt“, ich will sie nicht mit meinen Texten belasten, aber ich kann sie ihnen nur empfehlen. Es ist richtig, dass Deutschland auf dem Gebiet der Kultur eine einigermaßen herausragend Stellung in Europa
hatte und im Grunde immer noch hat, vielmehr als andere Länder. Ich halte das nicht nur für eine gute Überlieferung aus der Vergangenheit sondern auch für einen notwendigen Bestandteil zur Identifizierung der Menschen in ihrer eigenen Heimat. Wenn eine Bühne in einer kleinen oder mittleren Stadt geschlossen wird, weil nicht genug Geld dafür da ist, dann betrifft das die Verwurzelung der Menschen, die dort leben. Als der Krieg zu Ende war und niemand Geld hatte, war fast das erste, was in Deutschland wieder angefangen hat, Theaterspielen, teilweise geradezu auf den Trümmern der Ruinen. Also hier in Berlin haben sie wirklich auf den Trümmern angefangen, zu spielen und heute sprechen wir immer von Schließung von Theatern. Gut, natürlich müssen auch die Theater und Bühnen und Künste, die Subventionen bekommen, nicht beleidigt reagieren, wenn man von ihnen Rechenschaft verlangt, wie sie mit den öffentlichen Mitteln umgehen. Aber ich wehre mich immer schon von vornherein gegen den Begriff der Subvention. Ich habe jetzt gerade in München gesagt, kaum wird das Wort Oper oder Bühne genannt, ist von Subventionen die Rede. Das ist eine öffentliche Verpflichtung für unser Leben. Schulen haben wir ja auch, da reden wir ja auch nicht von Subventionen. Straßen bauen wir auch, da redet niemand von Subventionen, wir halten uns sogar einen Bürgermeister, da reden wir auch nicht von Subventionen. Wir brauchen die alle, aber die Bühnen brauchen wir auch, und warum sollen wir von Subventionen reden, die den Eindruck suggerieren, als solle hier etwas künstlich am Leben erhalten werden, was in Wirklichkeit nicht lebensfähig ist. Selbstverständlich ist nicht jedes Bühnenstück nicht lebensnotwendig, nicht jede Hervorbringung eines zeitgenössischen Künstlers ein notwendiger Bestandteil für unser Herz und unseren Atem. Aber insgesamt halte ich es für notwendig. Es gibt eine gute Überlieferung von Geist und Kultur in der Geschichte der Deutschen. An diese guten Tage der Überlieferung anzuknüpfen und in diesem Sinne die Kultur zu fördern und die Kultusminister und Dezernenten nicht nur danach auszurichten, ob sie am besten in der Lage sind Sparmaßnahmen beim Finanzminister durchzusetzen in ihrem Bereich, das gehört zu unserem Lebensgefühl und das gehört, wie ich finde, zum Selbstvertrauen wie auch zum Vertrauen unserer Nation. Vielen Dank für das Interview, Herr Dr. von Weizsäcker.
Berlin, den 4 Juli 2000
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